Debussy, Claude

Prélude à l’après-midi d’un faune

pour orchestre, Urtext, hg. von Douglas Woodfull-Harris

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2011
erschienen in: das Orchester 06/2012 , Seite 68

Debussys Skepsis gegenüber musikalischer Gelehrsamkeit und Analyse sowie sein Hang zu Geheimnis und Naturverbundenheit in der Musik sind allgemein bekannt. Dieser Hang ragt bis in die Partituren selbst hinein, etwa in Form nur ungefährer Angaben des Tempos. Mit dem ihm eigenen Humor verglich er in einem Brief an Jacques Durand von 1915 eine Metronomangabe, die lediglich „passend für die Länge eines Taktes“ sei, mit „Rosen, die einen Morgen lang blühen“. Dahinter steckt vermutlich weniger Gleichgültigkeit gegenüber den Aufführungen seiner Musik, sondern eher eine Genauigkeit, die sich von mechanischen Angaben nicht einholen lässt. In dem bereits erwähnten Zitat fährt Debussy fort: „Allerdings gibt es jene, die nicht auf die Musik hören, und die sich auf diesen Mangel stützen, um noch weniger auf sie zu hören!“ Gerade im Faune wurde eine klanglich rhythmische Geschmeidigkeit kompositorisch realisiert, die ein genauestes Hören und Abwägen der Klangfarben unbedingt erforderlich macht. Debussys Aufforderung an Jacques Durand: „Machen Sie es also, wie es Ihnen gefällt“, zollt der Unvorhersehbarkeit des Moments ebenso Tribut wie dem Engagement des Dirigenten, die Musik sprechen zu lassen und nicht die Stimme eines Vorgesetzten. Umso wichtiger erscheint es dann, einen Notentext herzustellen, der von sich aus die Musik sprechen lässt und über klangliche Details und Abweichungen Auskunft gibt. Aufgrund der zwar vielfältigen, in mancher Hinsicht aber etwas sperrigen Quellenlage zum Faune wurden die unterschiedlichen Manuskripte verglichen, um aus einer distanzierteren Aufführungsperspektive Möglichkeiten und Präzisierungen aufzuzeigen. Skizzen, die den Entstehungsprozess dokumentieren könnten, existieren nicht, sodass auch hier das Werk vom Geheimnis umwoben ist. Das unbestritten wichtige Projekt des Bärenreiter-Verlags setzt mit der vorliegenden Partitur Maßstäbe. Der Herausgeber ist sich der prekären Aufgabe, zwischen Präzision und Geheimnis zu vermitteln, durchaus bewusst, die Partitur ist eher ein Angebot von Varianten als ein unverrückbarer Urtext. Als bindende Vorlage werden die autografe Partitur und die gedruckte Partitur zugrunde gelegt, zusätzlich wurden Korrekturfahnen zu Rate gezogen, die einzelne Details besonders beleuchten. Dabei ist nicht immer klar, wie zu entscheiden ist, was durch die integre Herausgabe ersichtlich wird. Debussy war wohl kein begeisterter Korrekturleser. Zwischen verschiedenen Korrekturfahnen finden sich unterschiedliche und teils widersprüchliche Anmerkungen, so die pizz-Angabe in Takt 93 in Violinen und Violen, wo letztlich unklar bleibt, ob ein synchrones arco und pizz verlangt wird. Selbst die Widmung an Raymond Bonheur ist nicht durchgängig in den Quellen nachweisbar. So entstand ein Notentext mit zahlreichen (dreisprachigen) Fußnoten, der die Balance von Präzision und Geheimnis auf gelungene Weise repräsentiert.

Steffen A. Schmidt