Claudia Irle-Utsch
Prag: Parabel auf couragiertes Handeln
Erwin Schulhoffs Jazzoratorium „H.M.S. Royal Oak“ in der Prager Jerusalem-Synagoge
Der Umbruch im Kleinen ist folgenreich fürs Ganze: für den Sieg des Jazz. Diese neue Form der Musik, frei und ungestüm, rhythmisch, mitunter ekstatisch, gern auch ein wenig subversiv, war auf der H.M.S. Royal Oak, diesem riesigen englischen Schlachtschiff, unerwünscht. Jedenfalls vom Kapitän. Denn die Mannschaft liebte den Jazz. Hier fand sie sich wieder mit ihrer Sehnsucht nach Liebe, nach Heimat, nach einem bisschen Glück. Was also tun, wenn der Befehl den Gehorsam verlangt? Verstummen oder Widerstehen? Die Seemänner folgen dem, was ihr Herz sagt: Sie musizieren, sie singen, selbst in Ketten noch. Der Mut der blauen Jungs steckt an. Zurück in England erleben sie einen triumphalen Empfang, das Kriegsgericht gibt ihnen Recht, der Kapitän muss seinen Hut nehmen. Es folgt ein großes „Halleluja“!
Erzählt wird die Geschichte, auf einer historischen Begebenheit gründend, in dem Jazzoratorium H.M.S. Royal Oak. Der Prager Komponist Erwin Schulhoff (1894-1942) und sein Librettist, der Journalist Otto Rombach (1904-1984), siedeln diese Story einer friedlichen Revolte irgendwo im Nirgendwo der Südsee an, dort, wo kaum Land in Sicht ist, in einer Art luftleerem Raum, wo das beispielhafte Geschehen seinen Lauf nimmt – als Parabel auf couragiertes Handeln, auf die Kraft, die eine vermeintliche Ohnmacht birgt, auf die Freiheit des Denkens, Meinens und Tuns. Schulhoff scheint zu antizipieren, dass in der Welt, in der er lebt, diese Freiheit höchst gefährdet ist: Am 18. Mai 1931 wird sein Jazzoratorium in Frankfurt am Main uraufgeführt; keine zwei Jahre später kommt in Deutschland Hitler an die Macht, und diesem Machthaber liegt auch der Jazz quer. Erwin Schulhoff, Jude, Dadaist, Kommunist und seit April 1941 sowjetischer Staatsbürger, überlebt das Nazi-Regime nicht. Er wird im Zuge der Deportationen der jüdischen Bevölkerung von Prag auf der Festung Wülzburg nahe dem bayerischen Weißenburg inhaftiert. Dort erkrankt er an Tuberkulose; er stirbt am 18. August 1942.
Auf den Tag 80 Jahre nach dem Tod Schulhoffs ist sein Jazzoratorium wieder aufgeführt worden. Am 18. August 2022 sind es Studierende der Hochschule für Musik und Tanz Köln und Mitglieder des Chors der Staatsoper Prag, die dieses Stück, 40 aufregende Minuten lang, in der prächtigen Jerusalem-Synagoge in der Prager Neustadt hören lassen – in einer neuen, vom großen Orchester auf eine Jazz-Combo reduzierten kammermusikalischen Fassung – ein Arrangement des Kölner Musikers Frank Engel. Was sich in der militärischen Männer-Welt zugetragen hat, schildern zwei Frauen: Sopranistin Rebecca F. Hagen und Sprecherin Johanna Heyne packen das Publikum mit ihrer eindringlichen, hochpräsenten Darstellung. Sie werden begleitet von einem Ensemble, das sich in diese musikalische Erzählung eingegroovt hat, das Geschehen mit lässiger Leichtigkeit kommentiert und unterstreicht, auf den Punkt und dynamisch enorm variabel.
Werner Dickel, Professor an der Hochschule, hat die jungen Musikerinnen und Musiker aus Wuppertal und Köln und die etablierten Sänger und Sängerinnen der Prager Staatsoper auf den gemeinsamen Weg gebracht. Und das an einem Ort, der wie kaum ein anderer für abgebrochene Komponisten-Biografien steht: in Terezín, in der Ghettostadt Theresienstadt, wo zwischen 1941 und 1945 so viele Künstlerinnen und Künstler an der Grenze zwischen Leben und Tod versuchten, dem Grauen etwas zu entgegnen – Malerei, Literatur und eben auch Musik.
Hier setzt die Terezín Summer School schon seit ein paar Jahren mit ihrer Erinnerungsarbeit an. Durch die Kooperation mit dem besonders von der deutschen Botschaft in Prag unterstützten Projekt „musica non grata“ wird die Theresienstädter Initiative wesentlich breiter wahrgenommen. Auf vier Jahre angelegt, wolle „musica non grata“ zeigen, wie reich das tschechisch-deutsch-jüdische musikalische Leben im Prag der Zwischenkriegszeit sei, so Kai Hinrich Müller von der Hochschule in Köln. Der Forschungsdirektor des Projekts ist einer von vielen Ermöglichern, er hält auf deutscher Seite die Fäden dieser vielschichtigen Unternehmung zusammen. Als „Mastermind“ im „musica non grata“-Gesamt bezeichnet Müller den künstlerischen Direktor der Prager Staatsoper, Per Boye Hansen, der Schulhoff auch in „seinem“ Haus spielt: Dessen Oper Flammen feierte in der Saison 2021/22 in der Inszenierung von Calixto Bieito ein vielbeachtetes Comeback und ist dort auch noch im November in der neuen Spielzeit zu sehen.
Erwin Schulhoff, scheint es, passt in unsere Zeit – vermutlich, weil er seiner Zeit weit voraus war. Weitere Aufführungen von Schulhoffs Jazzoratorium sind im Umfeld der Hochschule geplant. Ein Termin steht schon: 8. November, Köln, Trinitatiskirche.