Shchedrin, Rodion
Praeludium zur IX. Symphonie Beethovens
Studienpartitur
Der 1932 in Moskau geborene Rodion Shchedrin gilt als Grenzgänger zwischen Tradition und Neuer Musik. Viele seiner Werke erfreuen sich einer beachtlichen Popularität. Trotz staatlicher Auszeichnungen und früherer Tätigkeit für den Komponistenverband der Russischen Föderation will Shchedrin jedoch kein politischer Komponist sein. Da erstaunt es, dass er zu einem der politischsten Werke des 19. Jahrhunderts Beethovens neunter Symphonie ein Praeludium beisteuerte. Das etwa 18-minütige Werk entstand 1999 im Auftrag der Nürnberger Symphoniker und wurde am 5. Januar 2000 in der Nürnberger Meistersingerhalle unter Jac van Steen uraufgeführt. Die Studienpartitur erschien nun bei Schott in der Edition Musik unserer Zeit.
Shchedrins Orchesterbesetzung orientiert sich an Beethovens Neunter, lediglich im Schlagwerk ist sie etwas erweitert. Das Grundtempo ist ein gering modifiziertes Moderato cantabile. Der anfängliche Zweiertakt (2/2, Halbe ca. 63-66) wird im letzten Abschnitt jedoch zum 3/4-Takt beschleunigt.
Die ruhigen Klangflächen des Anfangs leiten ein melodisch absteigendes Streicher-Cantabile ein. Versteckte Bezüge zum dritten Satz von Beethovens Neunter sind bereits hier greifbar. Enge Intervalle, Sextaufschwünge der Bratschen und ein kleines Trompetensignal bei Ziffer 4 charakterisieren diesen Abschnitt. Die Musik wird lebhafter und gelangt zu einem expressiven Holzbläser-Unisono, von den geteilten Streichern zart eingebettet. Einer Steigerung zum ff folgen bei Ziffer 7 wieder stehende Klangflächen im Tempo I, vom Glissandi der Bratschen verfeinert. Pesante-Motive der tiefen Streicher und Posaunen erinnern an die Rezitativ-Einschübe aus Beethovens Finalsatz.
Ein neuer Abschnitt beginnt bei Ziffer 10 mit einem kantablen Thema. Es wird wie Beethovens Freudenthema zunächst in Celli und Bässen eingeführt und wandert dann mit einem Gegenthema im Fagott immer höher durch Holzbläser und Streicher. Dieser Teil wird zum ff gesteigert. Bei Ziffer 19 übernimmt die Solotrompete das Gegenthema über einem Cantabile der Streicher. Diese ausdrucksvolle und warme Passage erreicht ihren fff-Höhepunkt bei Ziffer 24. Nach abruptem Abbruch gelangen die legato ansetzenden Streicher zu einem erneuten Aufschwung. Die Pauken treten nun solistisch hervor, wohl eine Reminiszenz an Beethovens Scherzo.
Noch sinnfälliger wird diese Parallele beim Wechsel zum Dreiertakt im letzten Abschnitt (Ziffer 26). Im marcato tanzt hier das ganze Orchester. Es folgt ein Blech-Choral. Wie eine Turmuhr spielen Pauken und Schlagwerk eine exponierte Passage, fortgesetzt von einem ff und mit grand détache gespieltem Streicher-Unisono. Die Dynamik wird zum ppp zurückgezogen. Dann kehrt ab Ziffer 35 das Cantabile der Streicher zurück, diesmal morendo abebbend. Am Schluss bereiten repetierte Quinttriolen der Streicher den Kopfsatz von Beethovens Neunter vor. Absteigende Quinten in Bässen und Pauken kündigen das Hauptthema an, ehe das Werk im Lento-Schlusstakt verhaucht. Shchedrin gelang ein facettenreiches Vorspiel zu Beethovens Meisterwerk: beziehungsreich und einfühlsam.
Matthias Corvin