Gerhard von Keußler

Praeludium solemne für Orchester

Erstausgabe, hg. von Denis Lomtev, Studienpartitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Laurentius
erschienen in: das Orchester 04/2020 , Seite 67

Viele heute vergessene Komponisten schlummern einen Dornröschenschlaf. Wer kennt schon Theodor Veidl, Erich Skoczek, Vinzenz Reifner oder eben auch Gerhard von Keußler? Und doch haben diese Komponisten Maßstäbe gesetzt und waren äußerst erfolgreich – bis die Wirren des Zweiten Weltkriegs Karrieren zerstörten.
Der als Sohn eines protestantischen Pastors 1874 in Schwanenburg/Lettland geborene Keußler wuchs in Sankt Petersburg auf und studierte in Leipzig u.a. bei Julius Klengel, Salamon Jadassohn, Hermann Kretzschmar und Hugo Riemann. Sein Weg als Dirigent führte ihn nach München, Rom, Florenz, Dresden und Wien, sodann ab 1906 nach Prag. Von 1921 bis 1932 wirkte er als Gastdirigent, der vornehmlich eigene Werke dirigierte, im In- und Ausland. Bis 1936 wirkte er in Melbourne und Sydney. Sein Werk­verzeichnis enthält zahlreiche sinfonische Dramen und Oratorien, Chöre, Liederzyklen, Kirchenmusik und eine d-Moll-Sinfonie.
Keußlers Praeludium solemne entstand während seiner Zeit in Australien und hinterließ nach der Uraufführung eine überschwängliche Beurteilung in der Presse. Zum 100-jährigen Bestehen der Stadt Melbourne erklang das Werk als Eröffnungsmusik zum Einzug des Erzbischofs Daniel Patrick Mannix in der Kathedrale St. Patrick’s. Diesem Erzbischof ist das Werk auch gewidmet. Unter der Leitung des Komponisten wurde das Werk ein weiteres Mal in der Reihe „Deutsche Musik der Zeit“ 1936 in der Münchner Tonhalle aufgeführt.
Wenn auch vom Ereignis des Nationalen Eucharistischen Kongresses von Melbourne geprägt, ist die Komposition jedenfalls schon dadurch zeitlos, dass sie als Grundlage die Ostersequenz Victimae paschali laudes verarbeitet, die bereits in den ersten Takten in Trompete und Posaune exponiert und später kunstvoll verarbeitet wird. Die üppig besetzte Partitur mit neun Stimmen im Holz und elf im Blech verzichtet ganz auf Instrumente wie Harfe und Schlagwerk, fordert aber eine Orgel. Der Orgelpart steht ganz im Dienst des Stückes – virtuose Passagen fehlen. Die Orgel verleiht der Komposition aber den nötigen Glanz. Notiert auf drei Akkoladen, kann die Pedalstimme allerdings bequem (gegebenenfalls durch Oktavierungen) manualiter ausgeführt werden. Da sich die Ostersequenz bekanntlich im ökumenischen Choral Christ ist erstanden findet, kann das Stück eine Bereicherung jeder Liturgie sein; als Konkurrenz zu etablierten Orgelkonzerten dieser Epoche war das 186-taktige Werk ja nie gedacht.
Die Ausgabe des Laurentius-Verlages basiert auf den Handschriften aus Keußlers Nachlass
im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv. Hauptquellen waren neben der autografen Partitur in skizzenhafter Form auch vom Autoren korrigierte Orchesterstimmen. Empfehlenswert – nicht nur für liturgische Handlungen, sondern auch als Ergänzung für Konzertprogramme, auf denen Werke für Orgel und Orchester stehen. Die Herausgabe von Keußlers Praeludium solemne ist zweifellos eine Bereicherung des Repertoires.
Andreas Willscher