Claren, Sebastian

Potemkin I: Baby Baby/Fehlstart (Detail)/Alkan/In der Hölle/Charms: Dub

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Wergo WER 65672
erschienen in: das Orchester 02/2008 , Seite 63

Fehlstart (Detail) nennt Sebastian Claren sein wohl bisher bekanntestes und für sein Gesamtschaffen besonders aufschlussreiches Werk, das er selbst mit „organisierter Verwirrung“ in Verbindung bringt und mit dem vorangestellten Satz von Rainald Goetz charakterisiert: „Ich erkannte nichts wieder.“ Tatsächlich verebbt ein anfangs zielgerichtet vorantreibender Klangstrom in je zwei Holzbläsern und Streichern sowie Klavier und Schlagzeug immer mehr, ohne dass sich die nachfolgenden mosaikartigen Klangbausteine zu einer auch hörend erkennbaren Kontur fügen. Ständige Wechsel von sich oft überlagernden Bezugsebenen legen die Suche nach Zusammenhängen nahe, die in einer untergründig symmetrischen Form auch angelegt sind, aber äußerlich wie beliebig erscheinen. Das paradoxe Farbenspiel in Jasper Johns Bild False Start von 1959 gibt Claren selbst als künstlerischen Bezugspunkt an.
Disparate Strukturen prägen darüber hinaus das fast illustrative, doppelbödig-untiefe Ensemblestück In der Hölle sowie die Orchesterkomposition Charms: Dub, der ein Dramolett des höchst bemerkenswerten russischen Dichters Daniil Charms (1905-1942) zugrunde liegt. Um die damit verbundene tragikomische Geschichte ins Musikalische zu transformieren, wählt der Komponist ein als Dub bezeichnetes jamaikanisches Verformungsprinzip von Reggae-Songs, das dem Hall große Bedeutung zumisst. In die überbordende Fülle akustischer Informationen kommen dadurch Bewegungen, von Dichtewechseln gekennzeichnete großräumige Ein- und Ausschwingvorgänge, die der vorgegebenen traumatischen Situation musikalisch überzeugenden Ausdruck verleihen.
Auch Alkan für Klavier solo, das früheste der zwischen 1997 und 2004 entstandenen Werke dieser Porträt-CD, hat durch den Verweis auf den französischen Pianisten und Tonsetzer Charles Valentin Alkan einen programmatischen Bezug. Analog zu dessen virtuoser Klaviermusik setzt auch Claren auf rasante Fingerübungen, clusterähnliche Klangwolken, abrupte Kontraste und stilistisch heterogene Strukturen – mit offensichtlichem Hang zum Parodistisch-Humoristischen.
Eine interessante Verwandtschaft zwischen den Gestaltungsmitteln der inspirierenden Vorlage und der eigenen Kompositionsweise bietet zudem Clarens fünfteiliger Zyklus zu Sergej Eisensteins berühmtem Stummfilm Panzerkreuzer Potemkin von 1925. In dieser selbstständig aufführbaren Musik sind verschiedene Typen von Kameraeinstellungen in entsprechende Intensitätsgrade übertragen, sodass etwa das Beunruhigende, Instabile, auf Veränderung Drängende des Films im hier ausgewählten Potemkin I: Baby Baby für Akkordeon und Streichtrio musikalisch kongenial eingefangen ist und zugleich über den zeitgeschichtlichen Kontext der Bildmontagen hinausweist.
Christoph Sramek