Lou, Michelle

Porcupine

für Streichquartett, Partitur und Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Edition Gravis
erschienen in: das Orchester 11/2017 , Seite 62

Was hat ein Streichquartett mit einem Stachelschwein (Englisch: porcupine) zu tun? Beim ersten Blick auf Michelle Lous Partitur mag der Gedanke aufkommen, dass ihr einsätziges, gute zehn Minuten dauerndes Werk ähnlich wie die Begegnung mit einem Stachelschwein auch keine unmittelbaren Begeisterungsstürme bei den Musikern auslösen wird, die sich die großformatige Notenausgabe aus der Edition Gravis auf die Pulte legen. Angesichts der Spielanweisungen, die man auf der ersten Seite entdeckt (dort ist unter anderem von Skordaturen in Sechsteltönen die Rede), und in Anbetracht der ständigen Taktwechsel, Tonerzeugungsvarianten und rhythmischen Herausforderungen ist „widerborstig“ sicher noch eines der netteren Worte, die einem einfallen.
Jetzt darf man sich dieses musikalische Stachelschwein trotz dieser ganzen vertrackten technischen „Zutaten“ aber keineswegs als ein sehr aktives Tier vorstellen – im Gegenteil. Die 1975 geborene amerikanische Komponistin selbst schreibt in den Spielanweisungen von einem zwar expressiven, aber dennoch introvertierten Stück. Wenn der vor allem zu Beginn omnipräsente imaginäre Geigerzähler einmal nicht tickt, dann kommt dieses Streichquartett teilweise fast zum Stillstand, dann sind es nur noch sehr dünne Tonfäden, die den Fortgang markieren. Später entwickelt sich aus dem Geräusch des Geigerzählers, das mit dem Bogen auf den abgedämpften Saiten der Streichinstrumente erzeugt wird, aber eine fast schon tonmalerische Episode, in der das titelgebende Stachelschwein sehr lebendig inmitten des Streichquartetts erscheint.
Unter Klanggesichtspunkten ist Michelle Lou hier zweierlei gelungen: Zum einen mutet dieser vielleicht zwei Minuten dauernde Teil wie eine perfekte Symbiose aus technischem Geräusch und lebendigem Klang an – es scheint, dass die Komponistin hier echtes Neuland betritt; zum anderen verharren die vier Stimmen trotz relativer Geschäftigkeit quasi auf der Stelle, gerade so, als erstarre die Zeit. In Bewegung kommt der musikalische Apparat danach mit eher wieder konventionell erzeugten Tönen, die einen fast klassischen, vielleicht sogar etwas biederen Abschluss dieses 2012 für einen amerikanischen Kompositionswettbewerb entstandenen Streichquartetts markieren.
Zuvor und vor dem Hintergrund des immer wieder einsetzenden Geigerzählers sind einzelne Pizzikati oder gestrichene Töne geradezu exotische Farbtupfer im eher technisch-geräuschhaften Klangwerkzeugkasten von Michelle Lou, den man übrigens auch anhand von Porcupine sehr gut auf YouTube oder im Rahmen des eigenen, innovativen Web-Auftritts der Komponistin kennenlernen kann.
Daniel Knödler