Werke von Vito Žuraj, Ondřej Adámek, Elliott Carter und ­anderen

Polyglot

Paul Cannon (Kontrabass), Rinnat Moriah (Sopran), Eva Böcker (Violoncello), Arditti Quartet, Ensemble Modern, Ltg. Enno Poppe

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Ensemble Modern Medien
erschienen in: das Orchester 11/2022 , Seite 73

Vier Kontrabässe nutzt der gebürtige Amerikaner Paul Cannon. Ein fünfsaitiger wurde von Daniel Hachez speziell für das Ensemble Modern konstruiert. Überdies ist Cannon selbst Geigenbauer. Im Ensemble Modern spielt er seit 2014.
Beim Label des Ensembles stellt Cannon jetzt ein subjektives, vielschichtiges, varianten- und informationsreiches Recital aus dem Gegenwartsschaffen vor. Diversitäts- und Pluralismus-Ideale ermöglichten einigen Instrumenten in den letzten Jahren einen deutlichen Emanzipationsschub. Zu diesen ­gehört sicher der Kontrabass. Der ­Albumtitel polyglot spiegelt die scharf kontrastierenden Anforderungen an Spieltechniken und ästhetische Positionen durch zeitgenössische Komponierende.
Herausgekommen ist eine faszinierende, sehr gut hörbare Stückfolge mit einer von Anfang bis Ende tragfähigen, substanziellen Programmdramaturgie. Cannon baute in der von ihm selbst komponierten Transition eine Brücke von Kaija Saariahos Folia für Kontrabass und (Live-)Elektronik zu Bernhard Ganders Take Five for Three für Kontrabass und zwei Schlagzeuger (Rainer Römer und David Haller). Damit setzt Cannon auch ein Plädoyer für das Genre des physischen bzw. digitalen Konzeptalbums und wehrt sich gegen die Herausnahme einzelner Tracks. Ganders Stück bildet ein rhythmisch pointiertes Finale mit suggestiven Partikeln. Das Desiderat „Kontrastreichtum“ bedeutet allerdings wenig, wenn es nicht mit persönlichem Nachdruck und echter Ambition verwirklicht wird. Auf dieser CD hört und spürt man Analyse und Passion in jedem Byte.
In zwei Stücken spielt Auseinandersetzung mit der musikalischen Vergangenheit hinein, in der  es noch keinen Kontrabass gab oder dieser sich sein Recht auf Autonomie außerhalb des Orchesters erst erkämpfen musste. Vito Žurajs La Femme 100 têtes auf den Text von Patrick Hahn ist akustisch und thematisch mit konsequentem Dualismus strukturiert: Der Sopran von Rinnat Moriah kontrastiert mit Text zu Cannons rein instrumentaler Linie, Žuraj reibt sich an der von ihm teilweise paraphrasierten Notentextur aus Richard Strauss’ Salome. Brian Ferneyhough lässt in seinem von dem englischen Renaissance-Komponisten Christopher Tye inspirierten „Christus Resurgens“ aus dem Zyklus Umbrations offen, ob es sich um ein Streichquartett mit Solo-Kontrabass oder nicht doch um ein Quintett inter pares handelt.
Mehrere Kompositionen dieser Zusammenstellung beinhalten tönende Erörterungen über Positionen zwischen Autonomie und Syn­ergie, Paradigma und Aufbruch. Rebecca Saunders’ Fury II, das längste Stück der CD, zelebriert Kon­traste zwischen konvulsivischen Klangballungen und flächigem Fließen. Führungsansprüche braucht der Kontrabass in keinem Track geltend machen, weil die Tonmischung jedes weitere Plädoyer erübrigt. So kommt beim Hören auch der Lustgewinn nicht zu kurz.
Roland Dippel