Trümpi, Fritz

Politisierte Orchester

Die Wiener Philharmoniker und das Berliner Philharmonische Orchester im Nationalsozialismus

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Böhlau, Wien 2011
erschienen in: das Orchester 04/2012 , Seite 61

Subventionierte Repräsentation zählte frühzeitig zu den politischen Aufgaben großer Orchester. Mit einem Zitat aus Robert Musils Mann ohne Eigenschaften erinnert Fritz Trümpi an die Rivalität von Donaumonarchie und Deutschem Reich am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Befürchtung, „wieder ein Königgrätz zu erleben“, hinderte beim ersten Wiener Auftreten des Berliner Orchesters 1895 die Wiener Philharmoniker daran, ihre preußischen Kollegen zu begrüßen. 1897 geißelte die Wiener Freie neue Presse die Beteiligung der drei prominenten Dirigenten Felix Mottl, Arthur Nikisch und Felix von Weingartner als „Wettdirigiren“, das die Musiker zwinge, jeder Laune der „Pultvirtuosen“ zu folgen. Die Aufregung legte sich im Ersten Weltkrieg. Nun zählten in Wien und Berlin die „Benefizkonzerte“ zugunsten von Verwundeten und Hinterbliebenen zu den – wenig beliebten – Pflichtaufgaben.
Nach der „Machtergreifung“ 1933 und dem „Anschluss“ Österreichs 1938 wurden die Elite-Orchester unverzüglich in den Dienst der von Joseph Goebbels perfektionierten NS-Propaganda gestellt. Der Übergang der Philharmoniker-Finanzierung von der Stadt Berlin und vom Land Preußen (dessen Ministerpräsident Hermann Göring mit Goebbels als Hüter deutscher Musikkultur rivalisierte) an das Reich, der Antisemitismus in der Personalpolitik, die sorgfältig abgewogene Medienpräsenz und die nationalsozialistisch beeinflusste, dennoch eigenständige Programmgestaltung beider Orchester bilden den Gegenstand dieses als Dissertation von der Universiät Zürich initiierten Werks. Unter zusätzlicher Förderung durch die Humboldt-Universität Berlin und die Universität Wien entstand eine umfassende Darstellung, für die der vielstrapazierte Begriff „Standardwerk“ durchaus passt. Wer sich intensiv mit der Materie auseinandersetzen möchte, findet reiches Material an Zitaten und Statistiken sowie einen umfangreichen Fußnotenapparat.
Zur menschlichen und künstlerischen Problematik trägt das Buch vielfältige Wissensgrundlagen bei. Es belebt die Diskussion, die seit Beginn des 21. Jahrhunderts auch im Internet geführt wird. Hingewiesen sei auf das fesselnde Filmdrama Taking Sides – Der Fall Furtwängler von István Szabó nach dem Theaterstück von Ronald Harwood (2002), das erfolgreiche Buch Das Reichsorchester von Misha Aster (2007) und den gleichnamigen, als DVD verfügbaren Film von Enrique Sanchez Lansch (2008). Diese Dokumentation gibt einen lebendigen Einblick in die Atmosphäre der Kriegszeit, die Werks- und Wehrmachtskonzerte und die Auftritte mit Furtwängler vor Nazi-Prominenz. Die hohe Qualität des Musizierens unter solchen Umständen lässt erkennen, dass Musik und Musiker letztlich immun sind gegen ideologische Einflüsse.
Reinhard Seiffert