Eugène Ysaÿe

Poème élégiaque op. 12 und andere Werke

für Violine und Klavier, Urtext, hg. von Ray Iwazumi

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Henle
erschienen in: das Orchester 6/2022 , Seite 70

Eine großartige Neuerscheinung! Ich muss gestehen, dass ich mich selten derart begeistert an eine Rezensionsarbeit gemacht habe wie bei dieser Notenausgabe.
Eugène Ysaÿe (1858-1931) wird heute allgemein als der erste Violinvirtuose modernen Typus angesehen und verehrt. Zugleich war er persönlicher Freund und Mentor vieler bedeutender Komponisten, darunter Franck, Chausson, Fauré und Lekeu. Carl Flesch, ansonsten ein durchaus scharfzüngiger, erbarmungsloser Kritiker seiner Zunft, gerät in seinen Erinnerungen eines Geigers geradezu ins Schwärmen ob „dieser überwältigenden Persönlichkeit…[die] jeden unwiderstehlich in seinen Bann zog“.
„Sein Ton war von edler Größe, modulationsfähig in höchstem Maße, innerlichen Impulsen gehorchend wie das Pferd dem geübten Reiter, das Vibrato von gefühlsgeschwängerter Unmittelbarkeit, die Portamenti neuartig bezaubernd, Fingerfertigkeit und Intonation von Sarasate’scher Vollendung. Seine Vortragsart verriet den impulsiven Romantiker, dem es nicht so sehr auf die gestochenen Notenwerte, die toten Buchstaben, als auf deren graphisch nicht wiederzugebenden Geist ankam. Er war ein Meister des fantasievoll-belebten Rubato.“ Ähnliches berichtete mein Lehrer Josef Gingold, der bei Ysaÿe studiert hatte.
Lange recht unbeachtet blieb die Tatsache, dass Ysaÿe zugleich auch Komponist war, dessen Werke ein hohes Maß an Fantasie, Originalität und Einfallsreichtum offenbaren. Wurde bis weit in die 1970er-Jahre nahezu ausschließlich die 3. seiner 6 Solosonaten op. 27 („Ballade“) gelegentlich im Konzertsaal gespielt, so sind heute zumindest alle 6 Sonaten im Standardrepertoire angekommen. Darüber hinaus gibt es mehrere sinfonische Poèmes für Solovioline und Orchester, eine Sonate für 2 Violinen, Kammermusik, kurze Stücke und anderes mehr.
Bis heute sind eine erhebliche Anzahl seiner nachgelassenen Stücke (noch) nicht veröffentlicht. Gleich zwei davon, Légende norvégienne und Grande Valse de concert op. 3 von 1882, sind als Erstausgaben in dem vorliegenden Band enthalten. Ebenfalls aus dieser frühen Periode stammen die Deux Mazurkas de salon, denen Ysaÿe einige Jahre später die Lointain passé folgen ließ. Letztere Mazurka sowie Rêve d’enfant op. 14 nahm der Meister 1912 selbst auf Schallplatte auf, sodass wir einen recht guten Eindruck von seinem Violinspiel gewinnen. Erinnert in seinen frühen Stücken manches an Vorbilder wie Vieuxtemps und Saint-Saëns, so sind die Stücke Extase und Poème élégiaque op. 12 in ihrer harmonisch expansiven und hochgradig expressiven Klangsprache von anderem Kaliber. Das Poème élégiaque beeindruckte Ernest Chausson derart, dass er nur wenig später sein eigenes berühmtes Poème schrieb.
Die vorliegende Neuausgabe lässt keinerlei Wünsche offen. Erwähnenswert sind das äußerst informative Vorwort sowie die ausführlichen und penibel genauen Text- und Quellenkommentare.
Kurzfazit: Gehört in jede Notenbibliothek. Und: bitte mehr davon! Damit wir den so lange unterschätz-
ten Komponisten Eugène Ysaÿe endlich komplett kennenlernen.
Herwig Zack