Sven Scherz-Schade
Plötzlich neue Aufgaben
Wie sich Verantwortungen für das Ensemble überraschend verschieben können
Wer übernimmt welche Aufgaben, wenn Chefdirigenten oder Generalmusikdirektoren viel beschäftigt sind, wenn sie parallel mit anderen Orchestern arbeiten oder vor Vertragsende das Haus verlassen? Häufig bleibt dann die eine oder andere Pflicht an Kollegen „hängen“. Auf diese Weise erhalten Orchesterdirektoren oder -manager, Gastdirigenten oder Stimmführer mitunter neue Verantwortung, an der sie nicht zuletzt beruflich wachsen können. Das zumindest legen zwei Beispiele aus Erfurt und Pforzheim nahe.
Im Normalfall sind die Verantwortungen klar verteilt: Das Künstlerische liegt beim GMD, das Organisatorische beim Orchesterdirektor. Wie wohl bei den meisten Orchestern war diese Aufteilung auch beim Philharmonischen Orchester Erfurt Usus. Doch derzeit ist die Position des Generalmusikdirektors in Erfurt unbesetzt. Die Stelle wurde ausgeschrieben, es gab ein Bewerberverfahren, das jedoch einer der Bewerber, Dirigent Adrian Müller, als unfair empfand und vor Gericht brachte. Das laufende Auswahlverfahren musste abgebrochen werden, da dem Erfurter Haus unter anderem eine fehlende Dokumentation des Auswahlprozesses vorgeworfen wurde. Bis dato ist man deshalb ohne GMD, und Myron Michailidis’ Beschäftigung als Chefdirigent wurde bis 2022 verlängert. Das hat nun zur Folge, dass so manche GMD-Aufgabe auf andere Schultern verteilt werden muss – hauptsächlich auf die des Orchesterdirektors, für den sich damit neue Verantwortungen ergeben haben.
„In der täglichen Arbeit haben sich einige Aufgaben verschoben“, sagt Malte Wasem, seit November 2019 Orchesterdirektor am Theater Erfurt. Eine neue Verantwortlichkeit ist beispielsweise die Begleitung von Orchestermusikern, die sich im Probejahr befinden. Für die Anwärter gibt es jeweils ein Auftaktgespräch und ein Halbjahresgespräch, in welchem Rückmeldungen ausgetauscht werden. Diese Gespräche führt jetzt der Orchesterdirektor und nicht mehr der vormals dafür zuständige GMD. Malte Wasem empfindet diese Verschiebung dabei durchaus als konsequent, denn so ist der Austausch mit dem Orchestervorstand noch enger geworden. Zudem führt Malte Wasem jetzt auch Dienstgespräche mit Orchestermusikern: „Es ist jetzt noch stärker meine Aufgabe, Dinge anzusprechen und zu thematisieren“, sagt er. Weil man gegenwärtig ohnehin gerade Dialog und Kommunikation öffnet, passt die Verschiebung der Verantwortung ganz gut ins Konzept. So verschob sich zum Beispiel das Format der Stimmführersitzung, wo – wenn nicht gerade Pandemie ist – die Stimmführer einmal pro Quartal zusammenkommen, um sich über musikalisch-künstlerische Herausforderungen zu verständigen. Auf freiwilliger Basis wurde auch das Format des Mitarbeitergesprächs eingeführt, sodass sich auch dabei neue Verantwortungen für den Orchesterdirektor auftun.
Überraschend und recht schnell bekam am Theater Pforzheim der seit der Spielzeit 2018/19 engagierte Erste Kapellmeister Florian Erdl neue Aufgaben zugeteilt. Weil der amtierende GMD einem Ruf an ein anderes Orchester folgte und um die Auflösung seines Vertrags gebeten hatte, kam Erdl 2019/20 in die Position des kommissarischen GMD, worin er für sich eine Chance sieht: „Chance insofern, als ich zu diesem Zeitpunkt schon wusste, dass eine hausinterne Bewerbung für mich nicht in Frage käme“, sagt Erdl: „Das hatte verschiedene persönliche und berufliche Gründe. Aber durch die kommissarische Leitung wollte und konnte ich Erfahrungen sammeln, die mir wichtig schienen.“ Wie es sich anfühlt, GMD zu sein, kann man in der Theorie nicht erlernen. Man übt es in der Praxis ein. Im Gegensatz zum Kapellmeister hat der GMD mehr bürokratische Aufgaben zu leisten und er muss im Team stärker präsent sein. Für Erdl bedeutet das in Pforzheim zum Beispiel, dass es regelmäßige Treffen mit anderen Kräften der Leitungsebene gab, das heißt nicht nur mit dem Intendanten, sondern auch mit dem Betriebsdirektor, dem technischen Direktor u.a. „Man ist bei der Findung neuer Orchestermitglieder oder bei der Besetzung von Stellen wie etwa einem Solorepetitor stark involviert.“ Und anders als der Kapellmeister führt ein GMD – auch ein kommissarischer – nach Bedarf Personalgespräche. Ihm obliegt der gesamte Bereich der Personalverantwortung. „Und ein sehr schöner Aufgabenbereich kommt hinzu: die Spielzeitplanung“, so Erdl.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2022.