Iannis Xenakis

Pléïades

DeciBells, Ltg. Domenico Melchiorre

Rubrik: CD
Verlag/Label: Genuin Leipzig
erschienen in: das Orchester 06/2019 , Seite 64

Ob sechs oder sieben – je nach Kultur und historischer Darstellung schwankt die Anzahl der Sterne im Bild der Plejaden. In der gleichnamigen Komposition von Iannis Xenakis (1922-2001) sind es auf jeden Fall sechs Schlagzeuger, die mit ihren Instrumenten den fixen Bestandteil des offenen Sternenhaufens der Plejaden bilden.
Nach seinem ersten Percussion-Sextett Persephassa aus dem Jahr 1969 ist Pléïades (1979) Iannis Xenakis’ zweiter Meilenstein in der Geschichte der Schlagzeugkunst. Beide Werke sprengen den bis dato üblichen zeitlichen und klanglichen Rahmen. Persephassa widmet sich mit sechs hexagonal im Raum angeordneten Perkussion-Sets vor allem der Erkundung des Klangs im Raum, Pléïades unternimmt eine fast systematische Untersuchung der Klänge selbst, hin und her wandernd zwischen Gruppen von Fell- und Metallinstrumenten.
Eine besondere Rolle im Instrumentarium der Perkussionisten spielen dabei sechs von Xenakis selbst konzipierte Sets von Metallinstrumenten, die sogenannten Sixxen. Deren Sonderklangwelt zwischen Vibrafon, Röhrenglocke und Glockenspiel ist auch aufgrund ihrer zwischentönigen Stimmung besonders gut geeignet, aus den individuellen Einzeltönen der Spieler nahezu amorphe Klangwolken zu produzieren. Dank zeitlicher Überlagerungen und Momenten höchster musikalischer Dichte wirbeln die Klänge wie Vogelschwärme oder – um im astralen Bild zu bleiben – Sternenstaub um die Köpfe des Publikums.
Für ihre Einspielung verwenden die Schlagzeuger von DeciBells (Adrian Romaniuc, David Gurtner, Robin Fourmeau, Sakiko Yasui, Szilárd Bu­ti und Till Lingenberg) erstmalig eine neukonstruierte Version der Sixxen, die weniger perkussiv als das Uraufführungs-Instru­mentarium klingt. Das ist ein eindeutiger Gewinn und sicher im Sinne des Komponisten, der – anders als seine oft mathematisch-konstruierten Partituren glauben lassen – stets ein großer Freund schillernder Klänge sowie stark archaisch-emotionaler Wirkungen war.
Wie immer bei Xenakis’ Schlagzeugwerken stellen auch die Pléïades höchste Anforderungen an die Interpreten. Jede einzelne Stimme ist spieltechnisch von großer, nahezu solistischer Komplexität, die Koordination untereinander über den Zeitraum von mehr als 45 Minuten erfordert ein Höchstmaß an Kondition und Konzentration. Das aus Ba­sel stammende Schlagzeugensemble bewältigt diese Aufgabe unter Leitung von Domenico Melchiorre mit Bravour. Zusammen mit den Technikern des Schweizer Rundfunks gelang eine mustergültige Aufnahme.
Fast zwanzig Jahre nach dem Tod von Xenakis ist diese Einspielung von großer Bedeutung für die weitere Tradierung seiner Werke. In Insiderkreisen wird Xenakis hoch verehrt und hat großen Einfluss auf nachfolgende Komponistengenerationen, doch seine Musik genießt im allgemeinen Bewusstsein längst nicht den Stellenwert, den sie verdient. Kein Komponist des 20. Jahrhunderts wusste mit seiner Musik so tiefsinnig und sinnlich über Raum und Klang, Konstruktion und Energie, Geschichte und Zukunft sowie Individuum und Kosmos zu philosophieren.
Stephan Froleyks