Seither, Charlotte

Playing both ends towards the middle

für Violine und Violoncello

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2005
erschienen in: das Orchester 06/2006 , Seite 83

Blickt man auf die einführenden Erläuterungen zu den Spielanweisungen in den beiden vorliegenden Partituren von Charlotte Seither, so darf man vermuten, dass es sich hier um sehr instrumentenspezifische Musik handelt. Und in der Tat nutzt die Komponistin so gut wie jede nur denkbare Variante der Klangerzeugung auf den zwei bzw. drei Streichinstrumenten.
Ohne diese vielfältigen Nuancen, die reichen Schattierungen und verschiedenen Anstreich-, Zupf- oder auch Perkussionsvarianten wären die Ziele Charlotte Seithers wohl auch nicht erreichbar: Es geht der Schülerin von Frank-Michael Beyer und Aribert Reimann, die seit 2000 auch selbst an der Freien Universität in Berlin lehrt, um einen absolut lebendigen, prismenhaft aufgefächerten und noch in kleinsten Strukturen kontrastreichen Klang.
Dabei spielen die einzelnen Instrumente nicht so sehr linear sich entwickelnde Rollen; vielmehr ist jeder einzelne Ton, sei er nun dem einen oder dem anderen Spieler zugeordnet, ein atomarer oder im komplexeren Fall molekularer Bestandteil des musikalischen Ganzen. Hochdifferenziert wirkt diese Musik sowohl im Trio Alleanza d’archi als auch im Duo für Violine und Violoncello, reaktionsschnell bis zur Übersteuerung oder Rückkopplung und schillernd noch im Pianissimo. Durch die Auflösung vertikaler und horizontaler Bezüge, durch den quasi sparsamsten Einsatz von Tonmaterial möchte Charlotte Seither ihre musikalische Sprache „verdichten“.
Das alles ist für die Ausführenden – und später natürlich auch für die Zuhörer – mit einigen Mühen verbunden. Haben sich die Streicher erst einmal einen Überblick über das mit Spielanweisungen geradezu überfrachtete Notenbild verschafft, stehen sie vor der Herausforderung, diese sehr spezifischen Anweisungen in ein hochartifizielles Klanggeschehen umzusetzen. Äußerste Präzision ist dabei von Nöten – und die absolute Beherrschung der Instrumente, aus denen im einen Moment schleifende und schabende Geräusche herauszukitzeln sind und die im nächsten Augenblick gar als Schlagzeug dienen.
Zusammen mit den präzisen Tempovorschriften und einer ungeheuer aufgeweiteten Dynamik ergibt das ein feinnerviges, mal kristalline, dann wieder flächigere Strukturen aufweisendes Klangbild, dem man aber sozusagen immer seine einzelnen Bestandteile ablauschen kann.
Das Duo Playing both ends towards the middle ist für die Expo in Hannover im Jahr 2000 komponiert worden, während das Streichtrio Alleanza d’archi bereits im Jahr 1996 entstand. Die beiden Werke Charlotte Seithers, die sich in den vergangenen Jahren zahlreicher Kompositionsaufträge namhafter Institutionen wie beispielsweise der Berliner Philharmoniker, des Badischen Staatstheaters Karlsruhe oder des Deutschlandradios Berlin rühmen durfte, sind jetzt bei Bärenreiter erschienen. Der Verlag hat sich dabei im Wesentlichen zu einer großformatigen Wiedergabe der Handschrift der Komponistin entschlossen – eine Entscheidung, die aufgrund der zahlreichen unorthodoxen Spielanweisungen wohl nötig war, die auf der anderen Seite aber so manche Zusatzanforderung an die „Lesestärke“ der Musiker stellt.
Daniel Knödler