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Rubrik: CDs
Verlag/Label: Ensemble Modern Medien EMSACD-002
erschienen in: das Orchester 10/2009 , Seite 67

Als der Sciarrino- und Lachenmann-Schüler Pierluigi Billone (geb. 1960) sich vor gut zehn Jahren ein Fagott kaufte und das Instrument intensiv zu erforschen begann, konnte keiner ahnen, welch beeindruckende Serie von Solostücken daraus erwachsen würde. Eines davon, “Legno.Edre.II.EDRE” (2003), bildet das Zentrum der wunderbaren Fagott-CD von Johannes Schwarz, Mitglied des Ensemble Modern und Dozent an der Musikhochschule Frankfurt am Main. Ihre Stimmigkeit kann man nur bewundern, ihrer Sogkraft kaum sich entziehen. Denn wie Billones Meisterwerk die archaische Herkunft des Fagotts aus Erde und Ahorn in die avantgardistische Zukunft einer magischen Mehrklang-Ballade mit mikrotonalen Klangfärbungen, komplexen rhythmischen Schwebungen und vokalähnlichen Schwingungen führt, so rankt sich Johannes Schwarz’ Konzept-CD insgesamt sinnfällig um das Thema des Organischen und Anorganischen, um Holz und Stahl, Spaß und Space in vitaler Körperaktion und Live-Elektronik. Wahrhaft unerhörte Klänge sind es, die Schwarz der „Stimme seines Holzes“ (Billone) entlockt, fern allen traditionellen Artikulationsweisen unseres „klassischen“ Instruments. Dass das Ergebnis dabei überwältigend schön und spannend ist in Klang, Struktur und Ausdruck, liegt sowohl an der Qualität der fünf verwandten und doch verschiedenen Werke als auch an der höchst intensiven Spielweise des klugen Interpreten, der alle Spieltechniken und Klangnuancen seines Instruments perfekt beherrscht.
Wie faszinierend, packend und erregend neue Musik für Fagott solo sein kann, zeigt bereits das CD-Eröffnungsstück des 1969 geborenen Kölner Komponisten Sascha Janko Dragicevic „Autogamie“ Version 4 von 2005/06. In diesem fulminanten Parforce-Ritt einer nachgerade schmerzhaften „Selbstbefruchtung“ vervielfältigt sich der Fagottist durch Live-Elektronik und elektronische Zuspielklänge selbst und durchlebt eine Omnipotenz-Fantasie in härtesten minimalistischen Loops und keuchenden Handkantenschlägen. Anders und doch ebenso intensiv in der Bewegungsenergie entfächert Schwarz die fasrigen Stimmverläufe von Enno Poppes (geb. 1969) “Holz solo” für Fagott (1999/2005), basierend auf dem initialen Viertonmotiv „auf-auf-ab“, aus dessen gertengleicher Biegsamkeit die Triebe des Werks in alle Richtungen sprießen. Lediglich das mikrotonale Lamento-Motiv T. 39 ff. hätte ich mir hier etwas klagender gewünscht.
Das kurze titelgebende Stück “più” (Einsiedler trifft Stahlbaum, 1994) von Dragicevic fordert dem Fagottisten in Konfrontation mit Stahlsaitengitarren und Steeldrums auf dem elektronischen Zuspiel höchste Virtuosität bis zur finalen Erschöpfung ab, und im Schlussstück “Transmission” (2002) des 1971 in Paris geborenen Franck Bedrossian treibt die wechselseitige Spiegelung von forcierten Fagott- und live-elektronischen Heavy-Metal-Klängen den Interpreten in „Grenzbereiche der Performance“ (Achim Heidenreich im lesenswerten Booklet-Gespräch mit Schwarz), die uns weit in die Zukunft einer neuen Synthese von Mensch, Instrument und Technik katapultieren, in der das alte Fagott verschwindet „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ (Foucault) und ein neues erwächst, das uns begeistert, erschreckt und verzückt. Eine großartige, in jeder Hinsicht zukunftsweisende CD.
Wolfgang Rüdiger
 

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