Schönberg, Arnold / Andrea Portera

Pierrot Lunaire / Red Music

Anna Clementi (Sprecherin), Ensemble Bios, Ltg. Andrea Vitello

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Continuo Records CR 114
erschienen in: das Orchester 07-08/2016 , Seite 73

Was verbindet Arnold Schönbergs Pierrot Lunaire mit Strawinskys Le sacre du printemps? Liegen nicht Welten zwischen dem vulkanischen Ballett und jenem ästhetisierenden „Duft aus Märchenzeit“, der Schönbergs Komposition durchweht? Gewiss, und doch verbindet beide Werke, dass von ihnen Signalwirkungen ausgingen, die noch heute, ein Jahrhundert später, zu spüren sind. Schon Pierre Boulez verwies auf diese Parallele, und im Booklettext der vorliegenden Aufnahme findet sich die zutreffende Charakterisierung des 1912 uraufgeführten Pierrot als einer sensationellen Inauguration der Neuen Musik. Die radikale Modernität der Partitur tritt umso deutlicher zu Tage, als das Werk permanent oszilliert zwischen dem „antiquierten“ Genre Melodram, dem angestaubten Fin-de-Siècle-Ton der Gedichte Albert Girauds und der zugespitzten, hochdissonanten Kontrapunktik des „konservativen Revolutionärs“ Schönberg.
Hinzu kommt das spektakulärste Einzelelement des Pierrot: sein Vokalpart. Schönberg beschreibt im Vorwort der Partitur detailliert, wie jene berühmten „durchkreuzten“ Noten der Sprechmelodie zu interpretieren sind, und kennzeichnet den Part als „Rezitation“. In der Neuproduktion hat eine echte Allrounderin diese Aufgabe übernommen: Anna Clementi, gelernte Flötistin, Schauspielerin und Sängerin, langjähriges Mitglied in Dieter Schnebels Experimentaltruppe „Die Maulwerker“. Ihr Tätigkeitsfeld umfasst Neue Musik und Musiktheater ebenso wie Improvisation und Kabarett. Anna Clementis Vielseitigkeit in allen Ehren: Ihre Pierrot- Interpretation beglückt nicht rundum. Häufig entfernt sich die Stimme sehr weit vom tatsächlichen Notentext. Dies widerspricht eindeutig Schönbergs Anweisung, wonach die geschriebenen Noten zwar „durch Fallen oder Steigen“ sofort verlassen, zunächst aber wohl doch erkennbar fixiert werden sollen. Hand in Hand mit Clementis allzu weitgehender interpretatorischer Freiheit gehen leider mangelnde Textverständlichkeit und Deutlichkeit der Diktion, wobei dieses Negativum noch unterstützt wird durch ein teilweise unbefriedigendes Klangbild: Gelegentlich droht der Vokalpart unterzugehen, den gesamten Ensembleklang umgibt – wenngleich nicht in allen Stücken – ein halliger Badezimmer-Sound.
Positive Eindrücke hinterlässt das Ensemble Bios. Verdrießlich stimmt allenfalls, dass sich im umfangreichen (italienisch-englischen) Booklet Platz fand für eine Biografie seines Gründers, des Dirigenten Andrea Vitello, nicht aber für eine Kurzpräsentation der fünf hochprofessionell agierenden Instrumentalisten und ihrer – so hoffen wir – gemeinsamen Ensemble-Idee.
Die CD enthält noch ein weiteres Werk: die Quintett-Komposition Red Music des 1973 geborenen Italieners Andrea Portera. Das dreisätzige, witzig-virtuose Stück enthält explizite Anspielungen an russische Größen des 20. Jahrhunderts – allen voran Prokofjew –, dürfte aber seinen Platz an der Seite des Pierrot in erster Linie durch die Besetzungsgleichheit errungen haben.
Gerhard Anders