Astor Piazzolla

Piazzolla Ruta 100

Die vier Jahreszeiten für Violine, Cello und Klavier. Oscar Bohórquez (Violine), Claudio Bohórquez (Violoncello), Gustavo Beytelmann (Klavier)

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Berlin Classics
erschienen in: das Orchester 06/2021 , Seite 79

In den Bordellen und Hafenkneipen der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires entstand vor etwa 150 Jahren die Tangomusik. Astor Piazzolla (1921-1992), geboren vor 100 Jahren, brachte sie endgültig in die klassischen Konzertsäle der Welt – als Tango Nuevo, angereichert mit Elementen aus Klassik, Klezmer, Jazz und Rock.
In diesem Zusammenhang steht diese neue CD. Zunächst kommen vier Werke von Piazzolla selbst. Es geht gleich gut los mit dem vor gut 50 Jahren vollendeten und längst allseits beliebten Zyklus Las Cuatro Estaciones Porteñas (Die vier Jahreszeiten von Buenos Aires) in einer ebenso gelungenen wie geistvollen Bearbeitung für Klaviertrio von Piazzollas langjährigem Arrangeur José Luis Bragato, welchem Piazzolla dermaßen blind vertraute, dass er in die für Bragato vorgesehenen Noten jeweils schrieb „wie immer“. Es folgen der für Mstislaw Rostropowitsch komponierte Le Grand Tango für Violoncello (und nicht – wie das Beiheft fälschlich behauptet – für Violine) und Klavier, die Milonga en re für Violine oder Cello mit Klavier (hier werden die beiden alternativen Solostimmen unisono aufgeführt) und La Muerte del Ángel in Bragatos Triofassung.
Danach schiebt sich der Argentinier Gustavo Beytelmann in den Vordergrund, Jahrgang 1945 und ab 1977 Pianist in Piazzollas eigenen Ensembles. Hier ist er mit drei stimmungsvollen Stücken vertreten. Sein Klaviertrio-Requiem Ofrenda – Homenaje à Astor Piazzolla komponierte Beytelmann wenige Tage nachdem er im Autoradio vom Tod des Meisters erfahren hatte. Seine Balada und der Tango für Violine und Klavier sind beide maßgeschneidert für das Duo mit Oscar Bohórquez. Den „Rausschmeißer“ bildet Caravan von der Jazz-Größe Duke Ellington (1899-1974), von Beytelmann frei für Klaviertrio „piazzollisiert“.
Für dieses Projekt verband sich Beytelmann unter dem Namen Patagonia Express Trio mit den gut drei Jahrzehnte jüngeren, in Karlsruhe geborenen Brüdern Oscar (Violine) und Claudio Bohórquez (Cello), deren Mutter aus dem (neben Argentinien) anderen Tangoland Uruguay stammt. Da ist also viel Tango- und Piazzolla-Kompetenz versammelt, und tatsächlich spielt das Trio stilsicher sowie mit souveränem Schwung.
Wie man es von Piazzollas eigenen Einspielungen kennt, sind die Akzente eher routiniert und fast beiläufig gesetzt. Und wie man es leider von vielen klassisch geschulten Interpreten kennt, werden viele langsame Passagen bei Piazzolla geradezu in Zeitlupe zerdehnt. In Le Grand Tango wird der ruhigere Mittelteil improvisatorisch in die Länge gezogen. Jedenfalls ist das Ganze insgesamt schon jetzt einer der wichtigsten Beiträge zum Piazzolla-Zentenarium.
Ingo Hoddick