Johannes Brahms/ Friedrich Gernsheim
Piano Quartets
Mariani Klavierquartett: Philipp Bohnen (Violine), Barbara Buntrock (Viola), Peter-Philipp Staemmler (Violoncello), Gerhard Vielhaber (Klavier)
Zu Brahms’ g-Moll-Quartett muss man eigentlich gar nichts mehr sagen. Für ein kammermusikalisches Werk ist es geradezu unfassbar populär. Wobei man natürlich darüber nachsinnen kann, ob es diese Popularität sich selbst oder seiner kongenialen Orchester-Erweiterung durch Arnold Schönberg verdankt, die ihm die schmeichelhafte Charakterisierung als „Brahms’ Fünfte“ eingebracht hat.
Beschränken wir uns also im Wesentlichen auf Friedrich Gernsheim, diesen geradezu grauenhaft vergessenen Freund von Johannes Brahms, der diesem in der Qualität seiner Werke kaum nachsteht. Wie Brahms hat Gernsheim vier große Sinfonien geschrieben, von denen die eine so hörenswert ist wie die andere. Was auch für Gernsheims Kammermusik-Schaffen gilt. Man kommt um die Frage kaum herum, ob das allgemeine Vergessen dieses jüdischen Komponisten immer noch vom allzu langen Arm der Nazi-Diktatur bewirkt wird.
Man muss allen Musikern dankbar sein, die Gernsheims Musik wieder zum Leben erwecken. Auch und besonders dem Mariani Klavierquartett, das bei dieser CD freilich Wert darauf legt, „die Musik von Gernsheim nicht zu pauschal mit der Musik von Johannes Brahms zu vergleichen oder gar zu vermischen“. Aber warum eigentlich nicht? Der Vergleich beider Werke lohnt (wie auch bei den Sinfonien) in überraschender Weise. Zwar sind die Anzahl der Sätze (4:3) sowie die Satzbezeichnungen leicht unterschieden, aber zumindest bei dem beide Werke abschließenden Rondo spürt man, wie sehr Gernsheim und Brahms Brüder im Geiste gewesen sind – was auch im Sanglichen der hier vorgestellten Werke zum Ausdruck kommt, worin sowohl Brahms als auch Gernsheim wahre Meisterschaft bewiesen haben.
Im Beiheft gedenkt das Quartett, das jetzt seit 23 Jahren äußerst erfolgreich zusammen ist, geradezu liebevoll seines „mittlerweile guten Freundes Johannes Brahms“, aber der Hörer darf ebenso sicher sein, dass inzwischen auch Friedrich Gernsheim herzlichst in diese Freundschaft einbezogen ist. Anders wäre es gar nicht möglich, die Werke mit einer solchen Authentizität, mit einem solchen Feinsinn, mit einer solchen Intensität, mit einer solchen, ja, Verliebtheit zu Gehör zu bringen.
Da sind ein paar Archäologen am Werk, die vorsichtig mit dem allerfeinsten Pinsel eine vielleicht allzu postromantische Staubschicht abtragen, um zwei blitzblanke Wunderwerke sicht-, in diesem Falle hörbar zu machen. Ich muss gestehen: Auch das Brahms-Quartett habe ich noch nie kompetenter vernommen – eine Referenzaufnahme!
Diese wunderbare CD ist – wie auch nicht? – coronabedingt mit einjähriger Verspätung erschienen. Nun wollen die „Marianis“ weitere Brahms/Gernsheim-Klavierquartette folgen lassen. Eine sehr gute Nachricht in unguten Zeiten!
Friedemann Kluge