Ludwig van Beethoven

Piano Concertos Nos. 4 & 6

Gianluca Cascioli (Klavier), Ensemble Resonanz, Ltg. Riccardo Minasi

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Harmonia mundi
erschienen in: das Orchester 05/2022 , Seite 67

Die Klavierkonzerte von Ludwig van Beethoven sind – um einen Satz von Hans von Bülow über Beethovens Klaviersonaten zu paraphrasieren – das „Neue Testament“ dieser Gattung. Fünf liegen original und komplett vor, es gibt aber noch Fragmente und als „sechstes“ Konzert die von Beethoven selbst stammende Klavierfassung des Violinkonzerts. Dieses wird gelegentlich aufgeführt und wurde auch schon mehrfach eingespielt. Beethovens gängige fünf Konzerte sind dabei wahrscheinlich die meistgespielten Klavierkonzerte überhaupt. Die Masse der Aufnahmen dieser Werke ist kaum mehr zu übersehen.
Doch wie werden eigentlich diese Konzerte – auch bei den mit Recht gefeierten Interpretationen legendärer Pianist:innen – in den meisten Fällen gespielt? Sicher nicht so, wie sie zu Beethovens Zeit erklangen und erst recht nicht so, wie Beethoven sie selbst gespielt hat. Dessen Meisterschaft als Improvisator war ja legendär. Nun sind improvisierte Kadenzen und Auszierungen selbstverständlich nicht rekonstruierbar, aber es gibt zumindest ein paar schriftliche Zeugnisse aus der damaligen Zeit, die einen Klavierpart mit mehr Noten als in den üblichen Ausgaben zeigen. Denn – so überliefert es Beethovens Schüler Carl Czerny – bei Beethoven waren immer mehr Noten zu hören, als der Komponist notiert hat.
Die vorliegende Aufnahme des vierten Klavierkonzerts und der Klavierfassung des Violinkonzerts nutzt historische Zeugnisse dieser und anderer Art, um Beethovens Musik historisch näher auf die Spur zu kommen. Der Pianist Gianluca Cascioli und der Dirigent und Musikwissenschaftler Ric-cardo Minasi haben sich lange und intensiv mit diesen Quellen beschäftigt. Sie bieten hier faszinierende Wiedergaben der scheinbar so vertrauten Wer-ke. In all den Punkten, in denen sie sich vom traditionellen Stil der Wiedergabe dieser Musik abheben, können sie sehr schlüssig auf die Dokumente aus der Beethoven-Zeit verweisen, die ihre Sicht- und Spielweise dokumentieren.
Das betrifft nicht zuletzt den flexiblen Umgang mit dem Tempo (im langsamen Satz des vierten Klavierkonzerts spielen Orchester und Klavier zum Beispiel in unterschiedlichen Zeitmaßen), die Breite der Dynamik, die Steigerungsdramaturgie oder die Klangbalance zwischen Klavier und Orchester. Der Klavierpart im G-Dur-Konzert wird nach einem durchaus nicht unbekannten Manuskript von 1808 musiziert. Und in diesem befinden sich eben viel mehr Noten, als gewöhnlich gespielt werden. Das Ergebnis ist verblüffend, ungemein spannend und hat mit ziemlicher Sicherheit ein hohes Maß an Authentizität. Dabei werden bis auf Blechbläser und Pauken moderne Instrumente eingesetzt.
Der Pianist Gianluca Cascioli verbindet in seinem Spiel Brillanz und Elan mit einer punktgenauen Vergegenwärtigung der musikalischen Charaktere. Das in Hamburg angesiedelte Ensemble Resonanz beweist mit sei-nem agilen Spiel, dass es zu den aufregendsten Orchestern unserer Tage gehört. Dirigent Riccardo Minasi ist über sein sinnfälliges Konzept hinaus auch ein sehr lebendiger und mitreißender Interpret von Beethovens Musik.
Karl Georg Berg