Brahms, Johannes

Piano Concerto No. 2/Klavierstücke op. 76

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Virgin Classics (EMI) 50999 266349 2 0
erschienen in: das Orchester 03/2011 , Seite 70

Die kommentierenden Begleittexte zur CD enthalten einzig einen mit Zitaten französischer Musiker gespickten Aufsatz, der zwar Informationen und Hörhilfen bietet, jedoch kein Wort zum Interpreten. Nach dem Einlegen dieser CD in einen Computer öffnet sich mit „Opendisc“ eine Software, die sowohl das – unkomfortable – Abspielen ermöglicht als auch die Anmeldung zu einer Online-Registrierung, die, so der Werbetext, „eine besondere Beziehung … zur Welt Ihres Lieblingsinterpreten“ herstellt. Über den Erfolg solcherart Kundenbindung wacht die Plattenfirma, die auch die Homepage des Künstlers verwaltet. Die CD lässt sich auch mit einem Standardplayer zum Klingen bringen, das diese Produktion dokumentierende Video lässt sich bei YouTube auch frei anschauen.
Der jetzt 40-jährige amerikanische Pianist Nicholas Angelich hat sich Brahms verschrieben. Er spielt sämtliche Werke Brahms’ ein, in denen das Klavier beteiligt ist. Die Brüder Capucon sind namhafte Mitspieler bei den Klaviertrios, das erste Klavierkonzert ist bereits in derselben Besetzung erschienen wie das zweite in der vorliegenden Aufnahme.
Die acht Klavierstücke op. 76 bestehen aus je vier Capriccios und Intermezzi, die neben der altbewährten dreiteiligen Liedform auch freie formale Gestaltungen kennen, an besonderen Affektgehalten auch das Unheimliche und Skurrile. Angelich spielt diese Stücke sehr klangschön, dynamisch zuweilen etwas zurückgenommen (nicht immer wird das Forte wirklich laut), er arbeitet die Charaktere heraus, ebnet dabei aber die Gegensätze etwas ein. Die Nr. 1 klingt bei ihm nicht „unruhig bewegt“, die Nr. 5 nicht „sehr aufgeregt“, hingegen ist das „Anmutige“ der Nr. 3 sehr gut getroffen. Das Klangliche hat bei ihm eindeutig Priorität gegenüber Strukturellem; als Beispiel: Die Septen in der Melodie der Nr. 6 verschwimmen fast völlig. Einen Prozess wie den der vergeblichen Reprise des h-Moll-Capriccios (Nr. 2), in dem die Tanzmelodie sich selbst zerlegt, haben andere Pianisten vor ihm schon plastischer dargestellt.
Brahms’ zweites Klavierkonzert liegt in unzähligen Einspielungen vor. Ein neuer Interpretationsansatz ist hier kaum erkennbar und wohl auch nicht intendiert, tradierte Konventionen der Aufführungspraxis werden beibehalten. So wird z.B. das Seitenthema im Scherzo langsamer genommen, obwohl dies in der Partitur nicht vermerkt ist. Schön ist hier (ab T. 43) das non-vibrato-Spiel der Streicher, überhaupt begleitet das hr-Sinfonieorchester unter Paavo Järvi umsichtig. Freilich sind die Möglichkeiten des Dirigenten begrenzt, da Brahms’ Orchestereinsatz sich oft auf reine Begleitfunktionen beschränkt. Brahms wird ja häufig eine gewisse Unbeweglichkeit und Klobigkeit vorgeworfen, der mit einer schlankeren Tongebung und mehr Durchsichtigkeit begegnet werden könnte, wie es z.B. Roger Norrington mit den Sinfonien realisiert. Angelich spielt sehr cantabel, nicht zu wuchtig. Die Aufnahme ist solide, aber nicht herausragend, Kenner werden eher auf Cliburn oder Rubinstein zurückgreifen. Das zweite Klavierkonzert ist schwere Kost, nach der musikalische Leichtigkeit zu empfehlen ist, eine französische beispielsweise.
Christian Kuntze-Krakau