Johannes Brahms

Piano Concerto No. 1/Tragic Overture/Éliza Overture

Alexander Melnikov (Klavier), Sinfonieorchester Basel, Ltg. Ivor Bolton

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Harmonia Mundi
erschienen in: das Orchester 02/2022 , Seite 69

Rekonstruierte Konzertprogramme sind im erweiterten Kreis um das Ehepaar Schumann nicht ganz selten: Beim Schumann-Fest Zwickau erklangen mehrfach Konzertwiederholungen, wie sie Clara Schumann in London oder in der Geburtsstadt ihres Mannes Robert gespielt hatte. Etwas ungewöhnlicher ist, dass ziemlich weit vom Aufführungsort ein am 27. Januar 1859 im Gewandhaus zu Leipzig erklungenes Großes Concert für die Silberscheibe nachgestellt wurde.
Konzeptklammer für den Schweizer Klangkörper im alemannisch-helvetisch-gallischen Dreiländereck war die damals erklungene Ouvertüre zu Luigi Cherubinis 1794 am Pariser Théâtre Feydeau uraufgeführter Opéra comique Éliza, ou Le voyage aux glaciers du Mont St Bernard (Elisa oder Die Reise zu Gletschern des St. Bernhard). Mit Ausnahme der von neudeutschen Komponisten bewunderten Medea war Cherubinis Stern um 1860 am Sinken; der von Brahms ging, auch durch seine Anhänglichkeit an die Schumann’schen Wirkungszentren Düsseldorf und Leipzig, steil auf.
Das inzwischen auf seinen in der Alten Musik ebenso versierten wie originellen Chefdirigenten Ivor Bolton eingeschworene Sinfonieorchester Basel vergisst in diesem Kontext sein beeindruckend feinsinniges Fauré-Projekt. Dafür setzt es in Brahms’ eng mit der Entstehung des Deutschen Requiems verschränktem ersten Klavierkonzert einen Beethoven-Klang ohne Jubiläumsbeweihräucherung.
Alexander Melnikov zeigt Detailbesessenheit für stilistische Spitzfindigkeiten und zugleich einen herzlich direkten Zugriff. Vor allem lässt er sich auf das vom weichen Leipziger Klangideal sehr weit entfernte Konzertabenteuer ein. Bolton und Melnikov verorten Brahms in den rauen bis düsteren Abgründen der schwarzen Romantik und genialischen Nervenattacken. Neben Herbert Blomstedts dunkler und dabei abgeklärt-souveräner Deutung mit dem Gewandhausorches-ter entstand hier ein Schatten-Brahms mit im Finalsatz recht trügerischen Virtuositätsschüben.
Zuerst streicht Bolton die Beethoven-Bezüge der Tragischen Ouvertüre heraus. Dann steigert er das d-Moll-Konzert – dessen Eingangstonart Berlioz 1856 als „düster, klangvoll, ein wenig gewöhnlich“ beschrieb – zum tönenden Beweis, warum das Gewandhaus-Publikum mehrere Anläufe brauchte, um an diesem Werk, seiner Ausdehnung und seiner kontrastreichen Bizarrerie Gefallen zu finden.
Melnikovs erste Einsätze exponieren eindrucksvoll den vorherrschenden Gestus des Solokonzerts. Diese ersten Akkorde sind weitaus mehr als sanftes Moll, haben die bedrohliche Grazie einer Danse macabre. Auch später macht Melnikov die Unruhe hinter trügerischer Ruhe, die gefährliche Dämmerung und gleichzeitige Wehmut hörbar. Die Flöten und Hörner des Sinfonieorchesters Basel malen fast impressionistisch einen Brahms mit drohenden Wellen ohne Sturmgewitter. Die packende Konzertleistung endet mit einer in der Éliza-Ouvertüre verpackten Musik-Devotionale an die Schweiz.
Roland Dippel