Tchaikovsky, Pyotr / Sergej Prokofiev

Piano Concerto No. 1 in B-flat minor op. 23 CW 53 / Piano Concerto No. 2 in G minor op. 16

Kirill Gerstein (Klavier), Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, Ltg. James Gaffigan

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Myrios Classics MYR016
erschienen in: das Orchester 09/2015 , Seite 78

Tschaikowskys erstes Klavierkonzert kennt jeder. Was gibt es da zu entdecken? Doch die Quellenlage bei diesem effektvollen Standardwerk des Repertoires ist verzwickt. Es gibt insgesamt drei Versionen. Besonders die nach dem Tod des Komponisten verbreitete dritte Fassung prägte unser Bild vom reißerischen Tschaikowsky-Schinken. Doch ausgerechnet diese letzte Fassung stimmt offenbar nicht mit dem Willen des Autors überein: Er dirigierte zeitlebens die Erstfassungen 1875/79. Die hämmernden Akkorde in weiter Lage – im Grunde das Markenzeichen des Werks – drängte offenbar erst der Pianist und Liszt-Schüler Alexander Iljitsch Siloti dem Komponisten nachträglich auf.
Eine Kürzung im Finale schlich sich neben anderen Kleinigkeiten (z.B. bezüglich Dynamik und Tempi) in die posthume Version ein und übermittelte der Nachwelt ein verfälschtes Bild. Die verwirrende Editionsgeschichte hat Polina Vaydman, leitende Wissenschaftlerin des Tschaikowsky-Archivs in Klin bei Moskau, zusammengetragen. Ihre Erkenntnisse bilden die Grundlage einer wirklich kritischen Neuausgabe des Notentextes – pünktlich zum 175. Geburtstag Tschaikowskys 2015.
Erstmals eingespielt wurde die Neuedition nun zeitnah vom russischen Pianisten Kirill Gerstein. Er kann sich so mit einer „World premiere recording of composer’s own version“ zieren, wie auf dem CD-Cover steht. Das ist im Detail korrekt. Allerdings hat sein russischer Kollege Andrej Hoteev bereits 1996/97 im großen Saal des Moskauer Konservatoriums alle drei Klavierkonzerte Tschaikowskys sowie die Fantasie in Urfassung gespielt, in Union mit dem Tschaikowsky Symphonie Orchester Moskau unter Vladimir Fedoseyev. Eine von der Kritik hochgelobte 3er-CD-Box erschien kurz darauf beim Label Koch-Schwann. Die beiden spektakulärsten Änderungen der Nr. 1 – die arpeggierten Anfangsakkorde und das verlängerte Finale – waren bereits darauf zu hören. Bei Gersteins neuer Aufnahme kommen zwar zusätzliche kleine Änderungen im Notentext zum Tragen, die Sensation bleibt dieser Neuaufnahme mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin unter der Leitung des Amerikaners James Gaffigan allerdings verwehrt. Hoteev wird als Pionier in Sachen Tschaikowsky im Beiheft gar nicht erwähnt. Mit Absicht?
Gersteins Interpretation gefällt durch ihre unaufdringliche Art. Wie er im selbst verfassten Booklet-Text schreibt, entdeckt er im Werk eine „lyrische, fast ,Schumanneske‘ Konzeption“. Es wird hier also nichts überspannt, nicht gehetzt, nichts plakativ überbetont. Daran passt sich auch das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin an. Das nimmt dem oft gehörten Stück natürlich etwas die Spannung und Dramatik. Insgesamt gelingt eine technisch saubere und durch Gersteins pianistisches Können immer wieder einnehmende Darstellung des originalen Notentextes. Wieso ausgerechnet Prokofjews zweites Klavierkonzert und nicht etwa ein seltenes Tschaikowsky-Werk diese CD ergänzt ist bei so viel betontem Einsatz für den Komponisten allerdings unerklärlich.
Matthias Corvin

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