© Tom Thiele

Ute Grundmann

Perspektivwechsel fürs Publikum

Ann-Kathrin Zimmermann ist ­Konzert­dramaturgin am Leipziger Gewandhaus

Rubrik: Über die Schulter
erschienen in: das Orchester 7-8/2022 , Seite 18

Zettel und Stift hat Ann-Katrin Zimmermann immer dabei, wenn sie in ein Konzert geht. Ihr könnte ja eine Assoziation, eine Verbindung zum gehörten Werk zu Ohren kommen, die selbst für sie neu ist. Und die würde dann später den Besuchern des Leipziger Gewandhauses begegnen, in einem Programmheft oder der Einführung zu einem Orchesterkonzert. Denn das ist die Aufgabe, die sie seit 2013 ausfüllt. „Konzertdramaturgin“ heißt ihr Beruf nüchtern und umfasst für sie doch viel mehr.
Mit „Perspektivwechsel“ hat sie in dieser Saison ein neues Format initiiert, bei dem sie mit einem Theologen über Elias, mit ­einem Extrembergsteiger über Mahler, mit einem Museumsdirektor über Selbstportraits in Musik und Malerei spricht – und nicht nur darüber. Spätabends, nach dem Konzert, nehmen dazu die Zuhörer die Plätze der Musiker ein, man ist nah beieinander und am Thema. Das geht zwar von der gerade gehörten Musik aus, doch dann weitet sich der Horizont. „Den Wechselwirkungen von Musik und Welt nachzuspüren, das hat mir neben werkbezogenen Vorträgen und Texten noch gefehlt“, sagt die Musikwissenschaftlerin. Ihr ist es wichtig zu fragen, was die Musik mit der Welt und mit jedem einzelnen Menschen zu tun hat. „Darum bedeutet sie uns so viel, weil sie ­jeden in ihrer Gegenwart trifft.“
Das vermittelt sie mit Leidenschaft an ihr Publikum, egal, ob sie „im stillen Kämmerlein“ für bis zu fünf Programmhefte in der Woche Werke in ihren Kontext stellt und die Konstellation des Abends, die Gedanken dahinter verständlich, den literarisch-philosophischen Hintergrund deutlich macht. Werk-Zyklen, wie etwa der gerade laufende zu Richard Strauss, sind für sie „ganz besonders reizvoll. Da bildet sich ein ganzes Netzwerk an Gedanken.“ Dazu kommen die Live-Einführungen zu den „Großen Concerten“, denen sie selbst zuhört und zugleich an Blicken, Reaktionen des Publikums merkt, ob ihre Worte angekommen sind. „Ich will nichts Austauschbares liefern“, auch nicht bei Konzert- und Saisonvorschauen, wenn sie mit Musikern auf bevorstehende Konzerte blickt. „Unser Publikum ist sehr involviert, das ist etwas Wunderschönes.“ Dass sie den direkten Kontakt zum Publikum „mindestens so sehr“ braucht wie ihr Gegenüber, hat Ann-Katrin Zimmermann gerade während der langen Lockdowns gemerkt.
Geplant war das alles nicht: Nach naturwissenschaftlichem Gymnasium studierte sie Philosophie, Kunstgeschichte und Musikwissenschaft. Mit Kirchenmusik und Fagott-Muggen finanzierte sie zwar ihr Studium, wollte aber „das Musizieren nicht dem Druck des Geldverdienens ausliefern“. Nach sechs Jahren als Akademischer Rat an der Universität schrieb die promovierte und habilitierte Wissenschaftlerin eine einzige Bewerbung, ans Gewandhaus, und nicht nur sie merkte: „Eigentlich ist es das.“
Für ihr Booklet zur Neueinspielung der letzten drei Klaviersonaten Beethovens war sie jüngst für den renommierten Musikpreis Grammy nominiert. „So einen Glamourpreis hätte ich schon lustig gefunden“, lacht sie und setzt gleich hinzu: ­„Gerade, weil das so gar nicht meine Welt ist.“ Es ist eindeutig die Musik, von der Ann-Katrin Zimmermann die Zuhörer mit ihrem Enthusiasmus immer wieder begeistern kann.