Werke von André Caplet, Paul Hindemith, Benjamin Britten und Heinz Holliger

Perspectives

Anaëlle Tourret (Harfe)

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Es-Dur
erschienen in: das Orchester 6/2022 , Seite 79

Die junge französische Harfenistin Anaëlle Tourret, seit 2018 Solo-Harfenistin des NDR Elbphilharmonie Orchesters, legt mit ihrer Solo-CD Perspectives die Messlatte auf Maximalhöhe! Ein wunderbar gespieltes Debüt, das vier sehr unterschiedliche Originalwerke für ihr Instrument vereint. Virtuos, vielschichtig, spannungsgeladen: Ihr Spiel ist faszinierend und betörend.
Die vier Werke aus dem 20. Jahrhundert haben jeweils einen grundlegenden und richtungsweisenden Beitrag zur Harfenliteratur geleistet. Als erstes die Deux Divertissements „à la francaise“ und „à l’espagnol“ von André Caplet, der aus dem reichhaltigen Spektrum der Klangfarben schöpft und bis dato nicht gehörte Klänge auf der Harfe kreiert. Die Dynamik- und Artikulationsvorgaben fordern sowohl Instrument als auch Instrumentalistin auf das Äußerste. Anaëlle Tourret spielt kristallin, mit feiner, kontrastreicher Dynamik und tollen Tempi, nie steht die Technik im Vordergrund, alles ist Musik.
Die Sonate für Harfe von Paul Hindemith, ein Klassiker der Harfenliteratur, entstand scheinbar unbeschwert von den düsteren Ereignissen der Entstehungszeit 1939, in neo-klassischer Form mit drei kurzen, kontrastierenden Sätzen. Mit großem Ausdruck vermag es die Harfenistin, innere Bilder entstehen zu lassen. Sie macht einen die technischen Schwierigkeiten vergessen und fasziniert mit klaren, deutlich gezeichneten Linien, Virtuosität und lyrischer Anmut.
Auch das dritte Stück, die Suite for Harp des Engländers Benjamin Britten, gehört zu den häufig gespielten Paradestücken. In den fünf Sätzen jongliert der Komponist mit verschiedenen Stilformen. Fast wie in einem barocken Werk nimmt hier jeder Satz eine andere Perspektive ein, die herrlich von der Harfenistin herausgearbeitet werden. Die majestätische Ouverture, eine virtuose Toccata, das geheimnisvolle Nocturne, eine witzige Fuge und die breit angelegte, feierliche Hymne zeigen die spielerische Vielfältigkeit dieses Werks und das große Können der Interpretin.
Zum Schluss dann Präludium, Arioso und Passacaglia des Schweizers Heinz Holliger, entstanden 1987 und seiner Frau, der Harfenistin Ursula Holliger, gewidmet. Die Zusammenarbeit mit dem Komponisten sowie ihre brillante Technik ermöglicht Anaëlle Tourret eine perfekte Abbildung des Werks: farbig, vielschichtig, lustvoll gestaltet.
Diese Debüt-CD macht große Lust auf weitere Einspielungen! Gerne auch mit Harfenrepertoire, das (im Gegensatz zu dieser Aufnahme – bis auf Holliger) noch nicht so oft aufgenommen wurde.
Ein großes Aber gibt es jedoch leider noch: Was ist bei der Abnahme der Harfe passiert? Sie klingt fast wie ein Topf, die Höhen fehlen, die Mitten haben keine Präsenz. Der Klang ist absolut unbefriedigend! Man kann nur ahnen, wie fantastisch diese Aufnahme mit einer dem großartigen Spiel von Anaëlle Tourret angepassten Mikrofonierung geworden wäre…sehr schade!
Volle Punktzahl für die Harfenistin, auch für das informative Booklet. Null Punkte für den Tonmeister! <
Silke Aichhorn