Borchard, Beatrix

Pauline Viardot-Garcia

Fülle des Lebens

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Böhlau, Köln 2016
erschienen in: das Orchester 10/2016 , Seite 58

Schon seit vielen Jahren nähert sich Beatrix Borchard ausgewählten Komponistinnen gleichsam von innen, will sagen, sie vertieft sich soweit irgend möglich in deren Leben, Umfeld, Musik und auch Gefühlswelt. Borchards Stärke dabei ist, dass es ihr gelingt, musikwissenschaftlich-empirische Forschungsarbeit mit nacherlebter emotionaler Durchdringung aufs Engste zu verbinden. Das ist ihr bei Clara Schumann genauso gelungen wie nun bei Pauline Viardot-Garcia, deren Leben und Werk sie im 9. Band der Reihe Europäische Komponistinnen, herausgegeben von Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld, untersucht.
Mit Hilfe sogenannter Montagen gelingt es Borchard, dieses Leben als Musikerin, Sängerin, Komponistin, Herausgeberin und Veranstalterin für heutige Leser anschaulich zu ma­chen. Eingebettet in zahlreiche Zitate aus Briefen oder Zeitungsartikeln und anderen Dokumenten von berühmten Zeitgenossen wie Heinrich Heine, George Sand, Robert und Clara Schumann und heute fast vergessenen Mitmenschen wie ihren Familienangehörigen und Schülerinnen entsteht ein Bild von Viardot-Garcia, wie es nur Borchard mit ihrem Arbeitsstil zeichnen konnte: anschaulich, interessant, faszinierend und lebendig. Sie wird uns vertraut als Tochter, Schwester, (Ehe-)Frau und Lehrerin in Beziehungen, aber vor allem als eigenständiger Mensch, dem Musik über alles ging.
Sie hat nicht für ihren Nachlass gesorgt, sondern unterrichtete bis kurz vor ihrem Tod. Borchard spekuliert: „Hoffte sie darauf, dass ihre Kompositionen ihren Namen über den Tod hinaus im kulturellen Gedächtnis bewahren würden? Oder bestand vielleicht ihr Lebensprojekt darin, im Hier und Jetzt Menschen, Dinge, Ideen zusammenzubringen, miteinander zu vernetzen, Eigenes im Austausch mit anderen zu kreieren – Eigenes, das zugleich ein Gemeinsames ist?“
Das gilt für alle ih­re Tätigkeiten und Kreationen, besonders für das Komponieren. Dabei ging es ihr in erster Linie um die Kommunikation zwischen verschiedenen Musikkulturen, weniger um das Schaffen eines Meisterwerks. Sie komponierte in ihrem eigenen Stil, nicht völlig losgelöst von Vorgängern und Kollegen, und doch sehr eigenwillig. Borchard macht dies am Beispiel der Mörike-Vertonung von Nixe Binsefuß, auch mit Seitenblick auf Hugo Wolfs Vertonung desselben Texts deutlich: Viar­dot integriert Elemente „des Lachens, der Ironie und der Parodie“ und vereint diese mit bühnenwirksamen Elementen und hohen vokalen Anforderungen. Der Ausdruck „Improvisierendes Komponieren“ kann auch auf ihre größeren Werke bezogen werden, deren Partituren den Status von Realisierungvorlagen haben und die Musik als Beziehungskunst in einem kommunikativen Raum situativ ermöglichen. Ein zur Lebenskünstlerin Pauline Garcia-Viardot passendes Verständnis von Komposition, die ihre Werke der jeweiligen Aufführungssituation und den Ausführenden anpasste! Diese neue Betrachtungsweise einer bedeutenden Persönlichkeit der europäischen Kulturgeschichte ist ein Verdienst und ein Baustein in der sich immer weiter verändernden (Musik-)Geschichtsschreibung. Die jahrelange Forschung hat sich sehr gelohnt!
Viola Karl