Rochus Dedler/Markus Zwink

Passionsspiele

Musik der Oberammergauer Passionsspiele 2022

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Hook Music
erschienen in: das Orchester 01/2023 , Seite 68

Es ist das Jahr 1633. Der Dreißigjährige Krieg tobt und die Pest fordert auch in Oberammergau ihre Opfer. Die Menschen haben Angst und suchen Zuflucht im Gebet. Sie geloben zudem, regelmäßig, alle zehn Jahre, ein „Spiel vom Leiden, Sterben und der Auferstehung unseres Herrn Jesus Chistus“ aufzuführen. Die gegenreformatorische Stoßrichtung der katholischen Kirche war solchen barock inszenierten Spielen gewogen und so wurde aus diesen Passionsspielen über die Zeit ein großer Erfolg. Ein Erfolg, der bis heute anhält und hundert­tausende Gäste aus aller Welt anlockt. In Oberammergau entstand so im Laufe der Zeit ein hybrides Mysterienspiel, dem oratorische Musik zugrunde liegt. Dennoch sind die Passionsspiele kein Passionsoratorium.
Im Jahre 1802 trat ein junger Lehrer, Rochus Dedler, seine Stelle in Oberammergau an. Er war es, der für die Passionsspiele 1811 eine neue Musik schrieb. Die Textvorlage für die Rezitative, Arien und Chöre besorgte der Ettaler Pater Othmar Weis. Der gesellschaftliche Wandel führte inzwischen immer wieder zu Modifikationen und Ergänzungen. Insbesondere mehrere Reisen des Passionsteams nach Israel gaben den Impuls zu musikalischen Veränderungen, die der derzeitige Leiter der Passionsspiele, Markus Zwink, eingearbeitet hat. Originales steht da neben bearbeitetem Material, Althergebrachtes neben Neukomponiertem. Zudem dienten die architektonischen Implikationen und die Kubatur des Festspielhauses als Inspirationsquelle für Doppelchoreffekte und dialogisch antiphonale Formen. In der aktuellen Inszenierung hört man so neben dem bereits für das Passionsjahr 2010 neu eingefügten jüdischen Gebet Sch’ma Israel auch den als Klagelied intonierten 22. Psalm Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.
Zweifellos ist es eine unglaubliche Leistung, ein geradezu bewundernswerter Kraftakt einer funktionierenden Dorfgemeinschaft, solche Passionsspiele in dieser Qualität zu stemmen. Vom diesjährigen Passionsfieber sind 1400 Darsteller:innen und 400 mitspielende Kinder infiziert. Dieses Virus führt zu musikalischen Leistungen, die mehr als respektabel sind. Solist:innen, Chor und Orchester musizieren eine am frühromantisch-klassizistischen Stil angelehnte Musik, deren Originalität und Authentizität allerdings nicht immer erkennbar bleiben. Es bleibt spannend, wie der Spagat zwischen dem Bewahren der musikalischen Tradition und dem Wunsch nach Überarbeitung auch in Zukunft gelingen kann. Nicht nur die diesjährige Kasseler Documenta zeigt, wie wichtig es ist, unreflektierte antisemitische Traditionen und Schichten bereits im Vorfeld aufzuspüren. In Oberammergau wird die Figur des Judas zum bemitleidenswerten Opfer seiner eigenen Tat, dem als verratener Verräter nur der Tod als Ausweg bleibt. Und Spielleiter Christian Stückl bleibt wachsam: „Antisemitismus, das ist uns in Oberammergau sehr wichtig, darf keinen Platz im Spiel, aber auch nicht im Leben der Spieler haben.“
Martin Hoffmann