Roland Dippel

Passionsspiele als Musikereignis

Oberammergau erinnert an den 200. Todestag des Komponisten Rochus Dedler

Rubrik: Zwischentöne
erschienen in: das Orchester 10/22 , Seite 39

2020 konnten die berühmten Passionsspiele Oberammergau wegen der Pandemie nicht stattfinden und wurden auf 2022 verlegt. Für den oberbayerischen Ort ist „das Spiel“ alle zehn Jahre eine Herausforderung. Fast 2000 Mit­wirkende, die in der Gemeinde geboren wurden oder seit mindestens 20 Jahren dort leben, sind als Darsteller:innen und Techniker:innen, an der Organisation sowie der Anfertigung von Dekorationen und Kostümen für die über hundert Vorstellungen beteiligt. Dieses Jahr finden Vorstellungen vom 14. Mai bis zum 2. Oktober statt.
Nicht nur der 200. Todestag des Passionskomponisten Rochus Dedler (15. Januar 1779 bis 17. Oktober 1822) legitimiert eine Betrachtung der Passion als musikalisches Ereignis. Im Orchester sitzen zu jeder Vorstellung 57 Musi­ker:innen, auf der Bühne agieren über 60 Chorsänger:innen – beide Kollektive sind doppelt besetzt. Die Musik umfasst über ein Viertel der zwei Teile mit einer Spieldauer von insgesamt fast sechs Stunden. In den vergangenen Jahren wird sie durch den musikalischen Leiter Markus Zwink behutsam erweitert und ergänzt.
Seit der wiederholten Berufung von Chris­tian Stückl zum Spielleiter seit 1990 haben sich die Spiele gewandelt und die Entwicklung zu einer maßvollen Professionalisierung durchlaufen. Mit wissenschaftlicher Beratung wurden als antisemitisch deutbare Textstellen und Situationen aus den Spieltexten des Ettaler Benediktiner­paters Othmar Weis (1870-1843) und des Geistlichen Rats Joseph Alois Daisenberger (1799-1883) entfernt. Inzwischen sind Frauen jeden Alters – das war vor 1980 anders – als Darstellerinnen zugelassen, ebenso wie Angehörige anderer Nationalitäten und Religionen. Das Theater, das die Oberammergauer 1633 durch ein Spielgelübde zur Befreiung von der Pest initiierten, wurde aus dogmatischen Kontexten herausgelöst. Die 42. Passionsspiele zeigen 2022 einen Jesus, der das Gewaltpotenzial und die Brutalität von politisch, ideologisch und religiös zerrissenen Gemeinschaften auf sich lenkt.
Stefan Hageneier modifizierte die 1890 nach Plänen von Carl Lautenschläger gebaute, dann im Passionsjahr 1930 durch Georg Johann Lang und den Architekten Raimund Lang erneuerte Freiluftbühne. Geblieben sind die seit dem 19. Jahrhundert bewunderten „lebenden Bilder“, auf die sich Rochus Dedlers Passions-Komposition teilweise bezieht. Sie zeigen Momente aus dem Alten Testament, die in Beziehung zur Leidensgeschichte Jesu stehen.
Die Erweiterungen der Musik durch Markus Zwink beinhalteten bereits 2010 das eingefügte Gebet „Sch’ma Israel“. Der während der Kreuzigung gesungene 22. Psalm „Eli, Eli, lama asabtani“ (Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?) sowie instrumentale Untermalungen des Spiels lösen die Musik Dedlers aus dem rein regionalen Kontext. Inspirationsmoment dafür war auch das akustische Kolorit der Altstadt von Jerusalem, wie es die Spielgemeinschaft auf Bildungsreisen erlebte. „All das hinterlässt Klangspuren, deren Einfluss in der jetzigen Passionsmusik immer deutlicher hörbar wird. Und so entwickelte sich das Bedürfnis, Chorpassagen in hebräischer Sprache singen zu lassen“, schreibt Zwink im Booklet zur Musik der Passionsspiele 2022.
Dedlers Musik, deren vermeintliche Simplizität und „Rustikalität“ seit dem 19. Jahrhundert kritisiert wurde, war 1950 durch Eugen Papst erstmals bearbeitet worden. 1977 unternahm die Spielgemeinschaft den damals lebhaft diskutierten Anlauf zu einer anderen Fassung. Statt des Weis-Daisenberger-Textes prüfte man Ferdinand Rosners (1709-1778) für Oberammergau geschriebene, von 1750 bis 1800 gespielte Passio nova auf Gegenwartstauglichkeit. Sprachgewaltig verortete Rosner die Leidensgeschichte im Spannungsfeld von Gott und Teufel. Für diese Fassung richtete Wolfgang Fortner Kompositionen des zur Mannheimer Schule gehörenden Franz Xaver Richter (1709-1789) ein. Zu den musikdramaturgischen Reformvorhaben hatte man auch den Rat von Carl Orff eingeholt. Anders als die Komposition Dedlers mit ihrem betrachtend-empathischen Gestus sollte die Musik eines Zeitgenossen im revidierten Spiel Rosners verschiedene Perspektiven einnehmen – die von Jesu Anhänger:innen und Gegner:innen sowie der bösen und guten Prinzipien.
Der aus Oberammergau stammende Dedler war Chorknabe im Kloster Rottenbuch und Schüler am Wilhelmsgymnasium München. Er gab eine geistliche Laufbahn auf und trat in Oberammergau eine Stelle als Lehrer und Chorleiter an. Im Alter von nur 43 Jahren starb er in Oberföhring bei München an einer Lungenkrankheit. Zu Dedlers Kompositionen gehören ein Deutsches Hochamt in D („Pollinger Messe“), Sakralkompositionen sowie Sinfonien in B-Dur und D-Dur.
Dedler erweiterte die erste Fassung seiner Passionsmusik für den Text von Othmar Weis aus dem Jahr 1812, als die Bearbeitung von 1819 Raum vor allem für lebende Bilder und die Szene des Einzugs in Jerusalem nötig machte. Er trat nicht nur als Basssolist, sondern auch in dem umfangreichen Part des Prologs auf. Dieser wurde nun von Christian Stückl gestrichen, weil weite Teile der Texte einer konfessionellen Andachts­übung gleichkamen. 2022 wird Dedlers Musik auch für eine Rahmenebene genutzt. Zur Ouvertüre zieht der Chor in archaisch-schlichter Kleidung ein und versammelt sich um das Kreuz – eine Reminiszenz an das Gelübde von 1633. Verzichten würde Markus Zwink am liebsten auf Dedlers ihm plakativ scheinendes, aber in der Gemeinde für unverzichtbar gehaltenes „Alleluja!“.
Aus heutiger Perspektive ist Dedlers Komposition interessant, weil sie die hohe Qualität der ländlichen Sakralmusik im Alpenraum bestätigt. Dedlers im 19. Jahrhundert von ersten Passionsspiel-Reisenden als schlicht verworfene Musik hat ihre Meriten. Sie ist wie die des Böhmen Josef Jakub Ryba und diejenige von Peter Huber – genannt Müllner-Peter – aus Sachrang ein bedeutendes Musikdokument dessen, was die Gläubigen auf dem Land hörten, während der aus einer ebensolchen ländlichen Tradition stammende Bayer Johann Simon Mayr für Bergamo, Venedig und Neapel komponierte. Dedlers Partitur ist für die Passionsspiele Oberammergau eine wichtige Klammer zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen dynamischer Tradition und rituellen Wurzeln.