Pascal Dusapin

Passion

Oper. Keren Motseri (Sopran), Georg Nigl (Bariton), Ueli Wiget (Cembalo), Vocalconsort Berlin, Ensemble Modern, Ltg. Franck Ollu

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Ensemble Modern
erschienen in: das Orchester 04/2021 , Seite 70

Seit der Uraufführung im Juli 2008 im Théâtre du Jeu de Paume von Aix-en-Provence ist Pascal Dusapins Oper Passion ein wichtiges und regelmäßig, aber nicht allzu häufig aufgeführtes Werk im Repertoire des Ensemble Modern. Im Oktober 2010 folgte die zweite Uraufführung als Tanzstück von Sasha Waltz in einer Produktion des Théâtre des Champs-Élysées in Kooperation mit L’Opéra de Lille. Ein Gastspiel gab es auch im Radialsystem Berlin und eine wichtige konzertante Aufführung in Frankfurt 2016. Da übernahm Keren Motseri die Sopranpartie von Barbara Hannigan. Die überfällige CD-Veröffentlichung war ein Teil der Feierlichkeiten zum 40-jährigen Bestehen des Ensemble Modern.
Für Aix-en-Provence sollte sich Pascal Dusapin (*1955) ein Projekt zu Claudio Monteverdis Schaffen überlegen – und dachte dabei nicht nur an dessen für die Zukunft des Musiktheaters bahnbrechenden L’Orfeo, sondern auch an die Geschichte aus der Genesis von Loths Frau, die beim Rückblick auf ihren Lebensraum Sodom zur Salzsäule erstarrt. Wer innehält, verliert sich – aber Salz ist wertvoll und konserviert. So sind es im Libretto von Dusapin und Rita de Letteriis zehn Passionsszenen, die zwei Menschen – „Sie“ und „Er“ – durchleben und poetisch reflektieren. Es geht um Gefühle, die Gemeinsamkeiten und Gegensätzlichkeiten, Gedanken an Entfremdung und Zusammengehörigkeit – also um den ganzen Kosmos des weiten Wegs zu zweit. Das Vocalconsort Berlin umwirkt die Soli mit einem Gespinst von Stimmen, die immer wieder mit den Musikern zu verschmelzen scheinen. Selten müssen Klangregie und musikalische Leitung so synchron atmen und agieren wie hier Franck Ollu am Dirigentenpult und Thierry Coduys am Mischpult.
Neue Musik mit Suchtfaktor. Es erklingen viele leise Töne, getragene Akkorde, filigrane Elektronik und unerhört feinsinnige wie fürwahr feine Klänge. Der irdische Beziehungsabriss wird fast zum Mysterium. Ein Schritt weiter, und Dusapin wäre in direkter Nähe zur Musik des Verstummens von Salvatore Sciarrino und dessen hoher Affinität zur Alten Musik, insbesondere der Spätrenaissance. So gerät in der Aufnahme leicht flächig, was bei Liveaufführungen von mindestens dreidimensionaler Wirkung sein sollte. Jagdish Mistry wechselt in zwei Szenen von der Violine zum Oud, das mit dem Cembalo (Ueli Wiget) den schwebend zeitlosen Gestus verdichtet.
Dusapin benötigt für die Beschreibung der Stimmcharaktere seiner beiden Hauptfiguren im Vorwort zur Partitur je-weils mehrere Sätze. Letztlich setzt er die Luzidität französisch geprägter Vokalisten mit Gespür für die Entsprechung von phonetischen Valeurs zum Verständnis aller textlichen Sinnebenen voraus. Aber ebenso sollen der weiche Sopran und der klar pointierende Bariton über Kraft, Nachdruck und physische Reserven gebieten. Diese Eigenschaften ver-einen Keren Motseri und Georg Nigl. Das sanfte Innehalten ist in Dusapins Partitur wesentlicher als die Schroffheit eines Verlusts.
Roland Dippel