Johann Sebastian Bach

Partita & Concertos

Claire Genewein (Flöte), Il Gusto Barocco, Ltg. Jörg Halubek

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Berlin Classics
erschienen in: das Orchester 10/2023 , Seite 72

Die Unterscheidung zwischen Kammermusik und Orchesterwerken ist ein Ergebnis der stilistischen Entwicklung seit der sogenannten Wiener Klassik, und das hat auch viel zu tun mit der Entstehung des öffentlichen Konzertwesens im 19. Jahrhundert. Im 18. Jahrhundert dagegen wurde in kleineren Räumen musiziert, die „Kammer“ war ein fürstlicher Salon mit begrenzter Kapazität. Und die musizierenden Ensembles waren variabel besetzt, je nach personeller Verfügbarkeit und Raumgröße.
Insofern dokumentiert die vorliegende CD eine Situation, die historisch belegbar ist: Das Ensemble Il Gusto Barocco ist in jeder Partiturstimme solistisch besetzt. Unter der Leitung des Cembalisten Jörg Halubek, zugleich Solist am Tasteninstrument, erklingen drei konzertante Kompositionen von Johann Sebastian Bach, die zwar nach heutiger Praxis in der Regel orchestral, also mit chorischen Streicherstimmen, ausgeführt werden, hier aber durchweg solistisch besetzt sind. Der akademische Streit, ob es sich hier um Kammer- oder Orchestermusik handelt, wird angesichts des hörbaren Ergebnisses nebensächlich: Hier wird auf höchstem spieltechnischen Niveau und auf der Basis historisch-informierter Aufführungspraxis vital, klangvoll und durchhörbar musiziert. In der Orchestersuite h-Moll (BWV 1067) fügt sich die solistische Flöte (Claire Genewein) auf organische Weise in das Klangspektrum ein. Und auch die Interpretationen sowohl des Tripelkonzerts a-Moll (BWV 1044) für Traversflöte, Violine und Cembalo als auch des Cembalokonzerts A-Dur (BWV 1055) halten das gleiche hohe Niveau. Man wünschte sich nur eine etwas stärkere klangliche Wahrnehmbarkeit des solistischen Cembaloparts – wohl eine Frage der tontechnischen Aussteuerung bei der Aufnahme. Sehr gut eingefangen ist dagegen die Raumakustik des (kirchlichen) Aufnahmeortes.
Konzipiert ist die CD sozusagen als „Gesamtkunstwerk“: Intendiert ist ein kompletter Hördurchgang wie im lebendigen Konzert. Den Rahmen bilden nämlich die vier Sätze der solistischen Partita für Traversflöte a-Moll (BWV 1013), die Claire Genewein sehr konzentriert, tonschön und zugleich agogisch frei eingespielt hat. Die zwei mittleren Sätze trennen (oder besser: verbinden) die konzertanten Werke; mit der Allemande beginnt die CD, mit der Bourrée anglaise endet sie. Dieses Konzept vermag durchaus zu überzeugen, ist aber offensichtlich vom „Live“-Konzert übernommen worden und deshalb auch nur bei vollständigem Abhören des Tonträgers nachvollziehbar.
Fazit: eine originelle CD, die mit spürbar großem Engagement von einem kleinen, sehr professionellen Ensemble konzipiert und realisiert worden ist. Deshalb verdienen es auch die übrigen Mitwirkenden, gesondert genannt zu werden: Eva Saladin, Felicia Graf, Anais Chen (Violinen), Sonoko Asabuki (Viola), Jonathan Pesek (Violoncello) und Fred Walter Uhlig (Violone).
Arnold Werner-Jensen