Jörg Widmann

Partica

Fünf Reminiszenzen für großes Orchester (2017-2018), Partitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz
erschienen in: das Orchester 11/2019 , Seite 64

Ein virtuoses Orchesterkonzert, ein farbiges Pasticcio, ein geistvolles musikalisches Versteck- und Ratespiel – mit diesem facettenreichen Stück, das sich mehrere Zugangs- und Deutungsmöglichkeiten offen hält, hat Jörg Widmann seinen Einstand als Gewandhauskomponist gegeben. Die Position wurde exklusiv anlässlich des Amtsantritts von Andris Nelsons als 21. Gewandhauskapellmeister geschaffen, ebenso das Werk, das im Auftrag des Gewandhausorchesters zu Leipzig und des Boston Symphony Orchestra entstand. Uraufgeführt wurde es am 8. März 2018 im Gewandhaus; die Bostoner Premiere erfolgte drei Wochen später. Beide Male stand Nelsons als Chefdirigent am Pult.
Widmann hat seine groß besetzte Partitur dem Klangkörper geradezu liebevoll auf den Leib geschneidert; Maß dafür nahm er an den reichen Traditionen der Stadt und des Gewandhauses. Schon der Werktitel verrät: Es ist Musik über Musik. Die Partita mit den Sätzen Grave-Gigue, Andante, Divertimento, Sarabande und Chacone sowie die oft gebrauchte Vortragsbezeichnung „tänzerisch“ nehmen auf die Suiten-Welt Bachs und seiner Zeitgenossen Bezug. Und die Reminiszenzen lassen Jahrhunderte Musikgeschichte Revue passieren. Dafür mischt Widmann eigene Ideen, Strukturen und Formen mit einer Vielzahl fremder Zitate und Alusionen zu einem schlüssigen Ganzen.
Im 1. Satz kontrastieren die dunklen Klangschatten von Tschaikowsky und Brahms, von Wagner und Bruckner mit der derb auftrumpfenden Gigue, der jegliche Individualität abgeht: Allerwelts-Barock! Für den 2. Satz reichen sich der Klarinettist und der Komponist Widmann die Hand: mit der wehmütigen und anrührenden Melodie aus der Es-Dur-Sonate von Mendelssohn, die das Englischhorn vorträgt und die nun subtile Veränderungen erfährt und in ein feines Klanggeflecht gebettet wird.
Der schönen Paraphrase folgt das grelle Show-Spiel des 3. Satzes: Kontroverse statt Konversation! Kantaten-Teile („Rechnung! Donnerwort“) und Suiten-Zitate (Badinerie) von Bach wirbeln gegeneinander, und auf dem Höhepunkt der Turbulenzen kann man gar das Gewitter-Motiv aus dem Heimatlied von Eisler vermuten – auch er ein „Leipziger“.
Die Sätze 4 und 5 lassen alte Stil- und Form-Elemente nur noch aus der Ferne anklingen; die Themen schreiten gravitätisch oder feierlich daher, sie erweitern den Tonraum aber zugleich auch um moderne Dimensionen. Im monumentalen Schlussbau über einem Bassfundament Bach’scher Art erfolgt dann doch noch ein Rückgriff auf Früheres – die gespannte Nahtstelle zwischen Grave und Gigue, der hier recht unvermittelt das festlich-ekstatische Tongeläut der Coda entspringt. Da war wohl Eile angesagt, denn die gedruckten Notenblätter sind auch erst kurz vor Probenbeginn auf die Pulte der Musiker geflattert …
Jörg Widmann hat es erneut geschafft, ein fulminantes und eindrucksvolles Stück zu kreieren und zu kredenzen – eine Herausforderung für ambitionierte Orchester und für neugierig-wache Zuhörer. Sie werden alle ihre Freude haben!
Eberhard Kneipel