George Benjamin

Palimpsests für Orchester/A Mind of Winter für Sopran und ­Orchester/At First Light für Kammerorchester/Canon & Fugue

Anna Prohaska (Sopran), Ensemble Modern, Ensemble Modern ­Orchestra, Ltg. George Benjamin

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Ensemble Modern Media
erschienen in: das Orchester 5/2025 , Seite 75

Deutschlands bedeutendster Klangkörper für Neue Musik zeigt eine erstaunlich variable Klanglichkeit von spröde bis opulent. Das bestätigt sich in den Live-Aufnahmen von Kompositionen George Benjamins aus den Jahren 2019 bis 2023, welche dieser selbst dirigiert hat. Das Ensemble Modern holt alle Facetten aus den durchdachten wie mit starker Energie pulsierenden Stücken. Ein kontrastreiches Spektrum: Auch hier zeigt sich die ästhetisch-stilistische Vielfalt des Briten, der von seinem Lehrer Olivier Messiaen die Kunst des farbigen Instrumentierens aufsaugte und in familiärer Nähe zur artifiziellen Spiellust von Britten und Birtwistle anwendet. Benjamin, dessen Opern zu internationalen Erfolgen wurden, kultivierte ein dramatisch akzentuierendes Gestalten auch in seinen Konzertkompositionen und hat ein Faible für kleinere Besetzungen.
All das macht ihn zu einem sehr sympathischen Partner von Ensemble Modern, das in den Partituren für kleine und große Besetzungen durchgängig spannende und wirkungsvolle Aufgaben findet. Unter Benjamins Leitung und mit einer intensiven Sängerin – wie der sich gleichermaßen mit Alter und Neuer Musik identifizierenden Sopranistin Anna Prohaska – wird das Album zu einem großen Wurf. Die Kälteschauer in A Mind of Winter, einem Text aus Wallace Stevens’ The Snow Man (1921), gleißen in hypnotischer Glätte. Prohaska liebkost die Verse mit Gespür für die weißkalte Atmosphäre, welche neben dem Wetter eine atmosphärische Erschöpfung und Entfremdung meint. Starre und identifizierende Reibungswärme sind die Pole, zwischen denen Ensemble Modern Benjamins Stücke hier generell angeht.
Dies auch in den Pizzicati von Bachs Kunst der Fuge in der Orchestration Benjamins. In seinen beiden Bach-Adaptionen verkneift sich Benjamin eigene Zusätze für Linienführung und Harmoni. In Nebenstimmen gibt es getragene Töne, welche zu Bachs zügigem Grundtempo einen oppositionellen Anti-Drive setzen und Distanz schaffen. Der zeitliche Abstand zwischen dem Material Bachs und seiner zeitgenössischen Ummäntelung wird auch zu einem strukturierenden Teil von Benjamins Instrumentierung.
„Das ‚Doppelleben‘ von Konstruktion und Fantasie ist für meine Musik essenziell“, akzentuiert Benjamin immer wieder. Die beiden Palimpsests haben eine außergewöhnliche Besetzung in größtmöglichem Abstand zum romantisch-modernen Orchester. An den Polen stehen acht Kontrabässe und vier Klarinetten. Das im Titel gesetzte Prinzip der mehrfachen Überschreibungen übernimmt Benjamin in Form einer kantigen und dabei fülligen Klangrede. Ensemble Modern macht dennoch kein Kunststück der Schroffheit daraus. Es geht um starke Impulse, auch um starke Suggestion. Beides gerät, wie immer bei Ensemble Modern, zum packenden Einsatz für die Kompositionen.
Roland Dippel