Krautscheid, Christiane / Stefan Pegatzky / Rolf W. Stoll (Hg.)

Paganini am PC

Musik und Gesellschaft im 21. Jahrhundert

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott, Mainz 2009
erschienen in: das Orchester 04/2010 , Seite 66

Musikalische Analysen sind nicht zu erwarten. Es soll um die Peripherie der Musik gehen, um die wichtige Frage, wie sich die moderne, von zunehmender Individualisierung, Globalisierung und vor allem Digitalisierung geprägte Lebenswelt auswirkt auf die Musik und den Musikbetrieb. Autorenrechte sind durchs Internet in ihren Grundfesten erschüttert, schnelllebig, von enormer Produktionshektik ist das Konzertwesen geprägt, ein omnipräsentes Quotendenken hat mittlerweile auch Nischensparten wie die zeitgenössische Musik erfasst.
All dies kommt im Sammelband Paganini am PC zur Sprache. Max Nyffeler, ehemaliger künstlerischer Leiter des Ricordi Verlags in München, beschreibt den Strukturwandel des Verlagswesens sehr klar und nennt konkrete Zahlen, die zum einen ein schwer berechenbares Milieu unterstreichen, zum anderen aber auch das enorme wirtschaftliche Potenzial, das durch Einnahmen aus Tantiemen entstehen kann: einen Gesamtumsatz von etwa 400 Millionen Euro erwirtschaften 336 Musikverlage in Deutschland pro Jahr. Allein Aufführungen des Strauss’schen Rosenkavaliers bei den Salzburger Festspielen erbrachten im Jahr 2004 400000 Euro – entstanden aus Materialgebühren und Tantiemen von 14 Prozent bei Gesamteinnahmen von 2,8 Millionen Euro.
Musik als Geschäft ist konkret zu fassen. Aber was heißt heute Musik? Zu Recht ist heute von „Musiken“ die Rede. Enorm diversifiziert ist das heutige Musikschaffen, schwer überblickbar, geradezu ein Pudding, der sich einem direkten Zugriff entzieht. Sabine Sanio versucht einen historisch abgeleiteten Überblick zu geben über musikalische Medienkünste, über elektronische Musik oder Improvisation. Es bleibt beim Versuch: ein nüchternes Referat, ohne These, ohne Neuigkeiten, ohne Stellungnahme.
Stärken des Sammelbandes treten da hervor, wo es subjektiver, mitunter auch polemischer zugeht. Frieder Reininghaus entlarvt so einige Fetische und dekadente Auswüchse des Musikbetriebs, wenn er sich mit dem „Experimentellen als Routine und Eskapismus“ beschäftigt. Von Konrad Boehmer stammt ein wunderbarer Essay über die Verstrickung der Musik in ökonomische Zwänge, von denen die Heroen der Vergangenheit (Mozart, Beethoven, Schönberg) ebenso eingeschnürt waren wie heutige unter dem Warendiktat stehende „Musikmacher“.
Dem Zusammenhang von „Musik und Gesellschaft im 21. Jahrhundert“ nachzuspüren – das vermögen nicht alle Autoren. Jörn Peter Hiekel gelingt der Brückenschlag zur „Gesellschaft“ nicht, wenn er sich mit „geistlichen und spirituellen“ Perspektiven der neuen Musik auseinandersetzt. Albrecht von Massows Selbstbefragung des Fachs Musikwissenschaft gerät zu einer skurrilen, philosophisch spitzfindigen Exegese, die ein wesentlicher Grund für die Isolierung eines Fachs ist, das sich nach wie vor seiner Legitimation entzieht. Vermutlich braucht es noch mehrerer solcher Bücher, um solch verschlossene Diskurse zu entlarven. Ein Anfang ist mit Paganini am PC gemacht.
Torsten Möller