Beethoven, Ludwig van

Overtures

Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, Ltg. Paavo Järvi

Rubrik: CDs
Verlag/Label: RCA Red Seal 88875 02232 2
erschienen in: das Orchester 02/2015 , Seite 75

Järvis Beethoven öffnet neue Horizonte. Paavo Järvi wohlgemerkt, der älteste Sohn der Dirigenten-Legende Neeme Järvi, ebenfalls als Orchesterleiter unterwegs wie sein Bruder Kristjan, ist der wohl begabteste Werkdeuter im Kreise einer außerordentlich musikalischen Familie. Sein Beethoven-Zyklus, den er mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen eingespielt hat, gilt als Referenzaufnahme der jüngsten Zeit. Nun fügt er dem im Hause Sony erschienenen großen sinfonischen Wurf eine Art Dessert an, das es in sich hat: Ouvertüren.
Mit kühlem Kopf und sicherem Gespür für das Besondere im Populären hat der längst in Amerika heimische Este um die epochale dritte Leonoren-Ouvertüre die Eröffnungsmusiken zu Coriolan, Egmont und Fidelio gruppiert, die wiederum von Die Geschöpfe des Prometheus und der späten Die Weihe des Hauses eingerahmt werden. Es ist eine chronologische Abfolge, die Beethoven als Neuerer herausstellt, als Komponisten, der in all seinen Schaffensphasen auf der Höhe der Zeit schreibt und stets darüber hinaus weist. Die Ouvertüren sind dem Titanen aus Bonn auch Spielfeld zum Erkunden neuer Formen. Der allgegenwärtige Sonatenhauptsatz wird hier immer mal wieder infrage gestellt, trotz meist dualistischen Themenmaterials, das den Konflikten der nachfolgenden Ballette (Prometheus), Schauspiele (Egmont, Coriolan, Weihe des Hauses), Oper (Fidelio respektive Leonore) geschuldet ist. Es ist erstaunlich, welche Ausdrucksvielfalt Beethoven in diesen zweckgebundenen Werken zustande bringt.
Und da sind wir bei Järvis Arbeit mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. Dieses Orchester gehörte schon vor der Ära Järvi, die nun schon seit 2004 währt, zu den bedeutenden Klangkörpern der Republik. Inzwischen hat es Weltruf erlangt. Das mag zum einen daran liegen, dass die Musiker das Orchester auch wirtschaftlich führen, sich als eine Art selbstständiges Hochleistungsteam verstehen; zum anderen wirkt Järvis Inspiration offenbar segensreich. Beethoven jedenfalls klingt in fast jeder Phase aufmüpfig, mitreißend widerständig, außerordentlich energiegeladen. Selten hat man beispielsweise die markanten Akkordschläge zu Beginn von Prometheus, Weihe des Hauses und Coriolan in derartiger klanglicher Perfektion gehört, wie sie die Deutsche Kammerphilharmonie hier zuwege bringt – das gelingt nur hervorragenden Musikern, die bis in die Haarspitzen motiviert zusammenarbeiten. Järvi findet zu aberwitzigen dynamischen und klanglichen Extremen, modelliert Tempi, Zusammenhänge, Emotionen mit hoher Intelligenz. Und kreiert einen Beethoven-Klang, der knackiger, transparenter, subversiver kaum denkbar ist. Da erscheinen die vergleichsweise kurzen, an den Rand des Repertoires verwiesenen sinfonischen Werke, wie sie die Ouvertüren darstellen, in neuem, glänzendem Licht.
Armin Kaumanns