Ernst Gernot Klussmann

Ouvertüre

für Orchester, op. 44, hg. von Carsten Bock, Erstausgabe, Studienpartitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Laurentius
erschienen in: das Orchester 06/2020 , Seite 66

Fast die Hälfte des Vorworts nehmen Darstellung und Wertung der Jahre des Komponisten Ernst Gernot Klussmann im NS-Staat ein. Der Herausgeber Carsten Bock kommt zum vorläufigen Ergebnis, dass dieser sich als „unpolitischer Mensch … der Obrigkeit unterordnete“ und so „Teil des Kulturbetriebs der NS-Zeit“ wurde. Biografische Details sind kaum ermittelt, das Prieberg-Archiv wurde wohl noch nicht konsultiert. Dass Klussmann aus seinem Entnazifizierungs-Spruchkammerverfahren als Entlasteter herauskam, ist wenig aussagekräftig, war doch die Ausgabe von „Persilscheinen“ verbreitete Praxis. In heutiger Zeit ist die Debatte, ob Verwerfungen im Lebenslauf eines Künstlers sein Werk desavouieren können, neu befeuert worden. Dennoch sollte sie Auseinandersetzungen nicht verhindern. Klussmann ist unbekannt geblieben, er lebte von 1901 bis 1975, vornehmlich in Hamburg, war unter anderem als Korrepetitor sowie Professor für Instrumentation, Partiturspiel und Komposition tätig. Sein Werkkatalog enthält neben Opern und Liederzyklen auch neun Sinfonien. Die hier vorliegende Ouvertüre entstand 1967/68. Sie wurde von einem Studentenorchester uraufgeführt. Vorgesehen ist eine große Besetzung (z. B. 16 erste Violinen). Selten kommt es zu klanglichen Ballungen, partiell spielen die Orchestergruppen allein oder parallel. Der Satz ist zuweilen zweistimmig, die Streicher und auch Teile des Holzbläsersatzes sind häufig unisono geführt. Dieses Stück ist zwölftönig. Deutlich zeigt die Reihe mit vier Terzen und einem gebrochenen Septakkord tonale Spuren; sie kongruiert mit der Phrasenbildung, und wiederholt kommt es zu Zweitaktern, die sequenziert werden. Trotz der Dodekafonie fungiert der Ton c als Grundton. Bei der A-B-AForm mit verkürzter Reprise hat der Mittelteil das größte Gewicht; er ist als Fuge gestaltet. Deren Formprinzip mit ihrer konstitutiven Quintbeantwortung wiederstrebt der Zwölftönigkeit. Klussmanns Lösung ist die Beantwortung im Tritonus-Abstand, dabei das Verhältnis vom ersten und letzten Ton seiner Reihe aufnehmend; hier ist der Satz vierstimmig, verdichtet sich in dissonanten Engführungen. Die A-Teile haben zum Teil wuchtigen Scherzo-Charakter, sind rhythmisch traditionell gehalten und überwiegend laut. Dass zum Zeitpunkt ihrer Entstehung die Kompositionsweise der Ouvertüre veraltet war, ist nach der Kritik an der Prämisse einer unumkehrbaren Progression des Komponierens ohne Belang. Zu fragen wäre, welche Ensembles sich von dem Stück möglicherweise angesprochen fühlen. Für Profiorchester könnten Ausdrucksgehalt und Struktur zu einfach sein, für Laienorchester die Ausführung der melodischen Linien zu schwer; für das Studentenensemble war es vermutlich passend. Verdienstvoll ist diese Edition einerseits unter dem Aspekt, Unbekanntes zutage zu fördern und, soes erklingen sollte, zum einführenden Hören dodekafoner Musik.
Christian Kuntze-Krakau