Otto Klemperer’s Long Journey Through His Times / Klemperer – The Last Concert

Two Films by Philo Bregstein, incl. The complete concert recording from September 26, 1971

Rubrik: DVDs
Verlag/Label: Arthaus Musik 109289
erschienen in: das Orchester 04/2017 , Seite 69

Er war einer der stilbildenden Dirigenten des 20. Jahrhunderts und zugleich einer, dem der Film noch zu Lebzeiten ein Denkmal setzte. Otto Klemperer war schon hochbetagt, als Philo Bregstein, ein 1932 geborener holländischer Filmemacher, in den frühen 1970er Jahren dessen dirigentische Laufbahn zugleich als musikalisches wie politisches Zeitzeichen verfilmte. Der 1885 in Breslau geborene Klemperer stand in Verbindung zu Person und Musik Gustav Mahlers, dann zu Teilen der Neuen Musik, war Dirigent der Berliner Kroll-Oper und schließlich charismatischer Interpret der deutschen klassisch-romantischen Musik via Schallplatte mit dem Philharmonia Orchestra London. Er war, auch was die ästhetischen Ansichten anbelangt, mit Ernst Bloch befreundet.
Off-Kommentare des Dirigenten und von Zeitzeugen samt Musikausschnitten bilden den auditiven Basso continuo, über dem
Archivaufnahmen in Gestalt von Filmsequenzen und Fotografien von Aufführungen, Programmzetteln, von Orten des Geschehens privater und öffentlicher, auch politischer Natur liegen. Gerade Letzteres ist zentral, denn Klemperers Aktivitäten am Vorabend der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten standen im Schnittpunkt der konträren ästhetischen und politischen Optionen. Auch später, im US-amerikanischen Exil blieb Klemperer eine „problematische“ Person, die mit seiner nah am Mainstream siedelnden künstlerischen Umwelt haderte.
Es ist eine erschlagende Fülle besonders von optischen Eindrücken, der man ausgesetzt ist – einem Leben, das in der filmischen Verdichtung regelrecht vibriert. Jetzt liegt der Film, neu geschnitten, und, nach Bregsteins Bekunden, in endgültiger, einst schon erwünschter Qualität vor. Bregsteins Formatierung ist völlig kommentarlos, aber in der Anordnung der Bilder, Stimmen und Klänge durchaus parteiisch. In den 1970er Jahren muss das umwerfend gewirkt haben, fast wie eine Clip-Ästhetik vor der Zeit.
Ein weiterer Bregstein-Film zeigt Ausschnitte der Probe und Aufführung von Klemperers letztem Konzert. Einblicke in die eigentliche Arbeit des Künstlers, genauso lakonisch, schnörkellos und klar gefilmt wie Klemperer agiert: der alte, mit Handicaps geschlagene Orchesterchef in Strenge und Sachlichkeit, die manchmal einen leicht sarkastischen Humor zeigt. Zu den Probenszenen wird die jeweilige Partiturseite eingeblendet, was sehr gut ist.
Ein Interview mit Ernst Bloch beleuchtet Klemperer emphatisch und brillant. Der junge Boulez, eher nichtssagend, kommt auch zu Wort. Das gesamte letzte Konzert liegt auf CD bei: eigentümlich blechern und stechend klingend im Vergleich zu den Ausschnitten davor in den Filmen.
Umfänglich wie ein Buch ist das dreisprachige Booklet mit vielen mehr oder weniger gelungenen Aufsätzen zu Klemperer.
Bernhard Uske