Thierry Pécou
Orquoy
pour grand orchestre
„Orquoy“ hieß in der Sprache der Andenvölker vor der kulturellen Einflussnahme durch die europäische Kolonisation nach Kolumbus das „Eintauchen in jene Zwischenwelt, wo die Melodien zu Hause sind“, so steht es im Vorwort zu Pécous etwa 20-minütigem Werk für großes Orchester. Also greift der Pariser Komponist, wie so oft, auch hier zurück auf außereuropäische, urtümliche Musiktraditionen, die er während seiner Reisejahre durch Lateinamerika und nach dem Lesen der musikethnologischen Aufsätze der Musikwissenschaftlerin Rosalia Martinez über die Musik der Andenvölker gewonnen hat. Eingenommen durchs Lesen des Vorworts, in dem auch noch von rauschhaften Fiestas die Rede ist, könnte man volkstümlich angehauchte Klänge erwarten. Doch wie schon in seiner Symphonie du jaguar aus dem Jahr 2003, die sich ebenfalls auf präkolumbianische Wurzeln beruft, sind die Inspirationsquellen kaum – noch besser gesagt gar nicht – hör-bewusst.
Was einen dagegen in Orquoy sofort gefangen nimmt, ist die explosive Rhythmik. Blockhaft starten zu Beginn im rasanten Tempo die Holzbläser das rauschhafte Fest, nicht das reiche Schlagwerk, um das Pécou die klassisch-sinfonische Instrumentation bereichert hat. Nach und nach mischen sich Congas, Campana, Teponaztil, Tom-Tom und Co ins Geschehen, durchbrechen den rhythmischen Dialog durch kurze, markant-melodische Einwürfe.
Tempiwechsel kennzeichnen den Beginn jedes neuen Abschnitts und allmählich vergrößert sich das rhythmisch-prägnante Urmotiv, wird ausgedehnter und bunter, sowohl rhythmisch als auch melodisch. Das Eintauchen in die „Zwischenwelt, wo die Melodien zu Hause sind“, nimmt Fahrt auf.
Pécous Klangsprache bewegt sich abseits der gewohnten Pfade einer Avantgarde. Die stete Betonung der Extremlagen in den Holzbläsern, der vorwärts treibende Rhythmus und ein exotisch anmutender Gebrauch lateinamerikanischer Perkussionselemente prägen seinen Stil. Klang- und Rhythmusebenen überlappen und vermengen sich zum dichten Klangteppich, in dem die einzelnen Teile von Rhythmik und Melodik ihr Eigenleben verlieren.
Orquoy ist ein interessantes und auch sicherlich packendes Orchesterwerk, aber die Exotik einer frühen Andenkultur ist nicht spürbar; und wahrscheinlich war sie auch nicht zu erwarten. Die musikalischen Wurzeln der Andenkultur sind so verblasst, dass sie kaum noch nutzbar sind, erst recht nicht in einem Orchesterwerk sinfonischen Zuschnitts. Eine Auseinandersetzung mit der fremden Kultur ist nicht zu spüren. Allein der Gebrauch lateinamerikanischer Percussioninstrumente als exotische Beilage reicht da nicht aus, um Bezüge zu einer anderen, längst vergangenen Kultur herzustellen. Und das ist dann auch der einzige Kritikpunkt: Anders als in seinen früheren Werken bleibt er hier zu sehr an der Oberfläche; ein Konzept schimmert nicht so richtig durch. Orquoy ist eben nicht so aussagekräftig, so persönlich wie seine früheren Werke. Packend zu hören ist es aber allemal. <
Markus Roschinski