Juris Karlsons

Oremus. Sacred Choral Works

Latvian Radio Choir, Sinfonietta Riga, Ltg. Sigvards Kl˛ava

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Ondine
erschienen in: das Orchester 05/2020 , Seite 73

Der lettische Komponist Juris Karlsons, Jahrgang 1948, glaubt an Jesus Christus – aber nicht an Inspiration: „Nein, das ist nichts anderes als regelmäßige, systematische Arbeit. Ein Komponist zu sein, ist harte Arbeit. Nur in amerikanischen Filmen sieht man Kompo-
nisten am Meer entlang gehen und Sinfonien schreiben. In Wirklichkeit ist Musik schreiben wie ein großes Bekenntnis. Es ist ein sehr steiniger und blutiger Weg zu einem selbst. Um eine Komposition mit einer großen Idee zu schreiben, braucht man Stärke und eine spirituelle Berufung. Sogar, wenn es nur ein kurzes Stück ist.“
Im Mittelpunkt dieser neuen CD steht Karlsons’ über halbstündige Sinfonie für Chor und Orchester Adoratio (2010) auf geistliche lateinische Texte (Litanei-Gebete, aus Psalm 22 und dem Zweiten Buch der Chroniken aus dem Alten Testament der Bibel) über die Irrwege der Menschen und Völker sowie ihre Suche nach Gottes Hilfe. Entsprechend dem Bogen von Karfreitag bis zum Ostermorgen wird diese Suche immer verzweifelter – am Ende kann der einzelne Mensch Gott nur in sich selbst finden.
Das spricht nicht nur Gläubige an, sondern alle Menschen auf der philosophischen Suche nach sich selbst. In dieser überwiegend kontemplativen, nur gelegentlich dramatisch zugespitzten Musik verbindet sich die große Chor-Tradition Lettlands mit einem der führenden Sinfoniker des Landes. Das besticht durch eine treffsicher farbige, oft solistische Instrumentation – das Leitinstrument wechselt im Laufe der Komposition vom Vibrafon zur Altflöte.
Dazu kommen noch drei weitere, kürzere geistliche Chorwerke. In Le lagrime dell’anima… für Klavier und Chor (in dieser Reihenfolge, 2013, auf einen italienischen Text von Karlsons selbst) singen die Klaviertasten, während die menschlichen Stimmen schimmern und glänzen. In diesem Fall war der Komponist dann doch mal inspiriert, nämlich von einem Sonnenuntergang an einem schönen Sommerabend, an dem nacheinander sieben Noten wie Sterne auftauchen.
Die beiden anderen, wieder lateinischen Stücke sind a cappella, nämlich das titelgebende Oremus (2018, aus der Dogmatischen Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils) und Ora pro nobis (2019) zu Ehren der Mutter Gottes. Beide zeigen auch mal die rhythmisch-energische Seite des Komponisten.
Karlsons’ Musik wirkt auf dieser Silberscheibe dramaturgisch schlüssig und spirituell tiefgründig. Das leuchtet buchstäblich ein, auch dank der erstklassigen Ausführenden: der Lettische Rundfunkchor, der lettische Pianist Vestards Šimkus sowie nicht zuletzt das Kammerorchester Sinfonietta Riga und der Dirigent Sigvards Kļava. Die Akustik der Johanneskirche in Lettlands Hauptstadt Riga ergibt eine angemessen „sakrale“ Aura, ohne zu hallig zu wirken.
Ingo Hoddick