Karaev, Faradzh
Orchestral Works
Patricia Kopatschinskaja (Violine), Azerbaijan State Symphony Orchestra, Russian State Symphony Capella, Ltg. Rauf Abdullayev/Valery Polyansky
1980 hat Faradzh Karaev gemeinsam mit seinem Vater die Sinfonie La quinta del sordo (Goya) komponiert. Da war er längst auf seinem eigenen Weg und mit allen Wassern der westlichen Moderne gewaschen. Kara Karaev indes hatte 1953 das erste große Ballett in Aserbaidschan geschaffen (Die sieben Schönen) und in seiner aufsehenerregenden 3. Sinfonie (1964) nationale Traditionen und Dodekafonie vereint.
Faradzh Karaev wurde 1943 in Baku geboren. Er studierte in der Klasse seines Vaters Komposition, lehrte dann selbst am dortigen Konservatorium und später in Moskau und Kasan als Dozent und Professor. Vielfältige Aktivitäten und internationale Erfolge machen ihn heute zu einer Größe im Moskauer Musikleben. Sein ungemein facetten- und umfangreiches Schaffen startete 1967 im Zeichen von Strawinsky und Webern, dann erfolgten die Annäherung an Berg und Crumb und der Gang durch alle musikalischen und multimedialen Produktionsmittel der Zeit. Zwei Akzente aber markieren in der polystilistischen Fülle das unverwechselbar Eigene: ein Post-Flair, das sich in Werktiteln und Ausdrucksweisen als Trauer, Erinnerung und Abschied manifestiert, und der Mugam, der seit uralten Zeiten als Gattung, Form oder Tonart Bedeutung besitzt und zudem jene Art des musikalischen Denkens ausmacht, der sich Karaev verpflichtet fühlt. Die riesige Welt und ich sowie Die Schwere der Substanz des Lebens bilden denn auch die ideelle Substanz einer Musik, die von Reflexion und Narration, von Aufschrei und Stille, von schroffen Gesten und Momenten anrührender Schönheit geprägt ist.
Das Konzert für Violine und Sologeige (Dem Andenken meiner Mutter) entstand 2004 für Patricia Kopatschinskaja und wurde 2009 uraufgeführt. Die Sätze Variationen ohne Thema Themen und Allusionen Vier Variationen und Thema entfalten eine kontrastreiche Entwicklungsform, deren Ausprägung völlig im Zeichen der phänomenalen Geigerin und ihres mit allen möglichen Spieltechniken und Effekten gespickten Soloparts steht. Den virtuosen Improvisationen und der Suche nach klaren Linien und Strukturen im 1. Satz folgt der fließende Mittelsatz mit Zitaten und Echos, Eruptionen und Elegien. Und am Ende des burlesk beginnenden, Intervalle, Rhythmen und die Dynamik ständig wandelnden 3. Satzes klingt fragil das Grieg-Thema an: Heimweh.
Im Orchesterstück Vingt ans après nostalgie
(2009) wird wie bei Denisow und Schnittke, deren Andenken es gewidmet ist die Sinfonieform aufgehoben: Die Sätze II und III nehmen mit dunklen Farben und wuchtigen Klängen, mit spielerischer Bewegung und hellen Tongirlanden Adagio- und Scherzo-Charakter an, indes das Werden und Wachsen, die Auf- und Abschwünge, die dramatischen Kollisionen und der ätherische Schluss den Sätzen I und IV Expositions- und Finale-Funktion zuweisen.
Mit der Präsentation der beiden Liveaufnahmen leistet das Label Pionierarbeit; es bereichert die Sicht auf die Musik von heute durch das außergewöhnliche Porträt eines Komponisten und seiner Interpreten.
Eberhard Kneipel