Hans Sommer
Orchestral Songs
Mojca Erdmann (Sopran), Anke Vondung (Mezzosopran), Mauro Peter (Tenor), Benjamin Appl (Bariton), Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Ltg. Guillermo García Calvo
Von den Komponisten der Jahrhundertwende gehört Hans Sommer (1837–1922) als naturwissenschaftliche und musikalische Doppelbegabung mit Sicherheit zu den interessantesten Persönlichkeiten. Der Direktor des Braunschweiger Polytechnikums entschloss sich 1884 für ein Leben als Musiker in einem Vorruhestand ohne Pensionsbezüge. Sommers in vier Jahrzehnten entstandene Klavier- und Orchesterlieder umrahmen ein vielfältiges Opernschaffen. Sommer schloss sich keiner der rivalisierenden Gruppen des späten 19. Jahrhunderts an und zeigte sich für die „klassizistischen“ Bestrebungen um Brahms und Bruch ebenso aufgeschlossen wie für Neuerungen Richard Wagners oder die formalen und harmonischen Impulse durch Franz Liszt und Richard Strauss aus Weimar, wo Sommer von 1888 bis 1898 wohnte. Pole von Sommers Musiktheaterschaffen waren die melodisch akzentuierte Märchenoper nach 1890, aber auch die durch filigrane Melodik und musikalische Konversation zukunftsweisende Opernkomödie Saint Foix. Richard Strauss zählte Sommers Lorelei in einem Brief an seinen Vater 1889 „trotz des nicht mehr zeitgemäßen Textes musikalisch zu dem besten, interessantesten, was heute in Deutschland geschrieben wird“.
Mit Ausnahme von Wanderers Nachtlied II handelt es sich in dieser spannenden, schönen und für die Diskografie qualitativ bedeutungsvollen Sammlung um Weltersteinspielungen. In einem Block präsentiert Mojca Erdmann fünf Lieder aus Lorelei. Zusammen mit den fast zeitgleich erschienenen Orchesterlied-Alben von Jules Massenet (Palazzetto Bru Zane) und von Franz Liszt (Aparté) erweitert diese hochklassige Edition das Wissen über das Genre des Orchesterliedes der Neuromantik entscheidend und liefert eine Fülle spannender Programmideen. Die Liedfolge überrascht sogar bestinformierte Alleskenner.
Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin kostet Details mit schönheitstrunkener Sensibilität aus. Der im deutschen Repertoire bestens erfahrene Guillermo García Calvo holt mit hoher Kompetenz alle Vorzüge aus den Partituren. Und die Solist:innen hört man mit Sonntagsstimmen. Sie alle zeigen neben der klaren Diktion lyrischen Schmelz und gestaltende Nachgiebigkeit, welche die mit einem Quartettsatz endende CD zu einem Fest machen.
Die Aufnahmen zeichnen sich durch Genauigkeit, Sorgfalt und die Zuneigung aller Beteiligten für die ausgewählten Kleinode aus. Sommer, der eine mit Brahms vergleichbare Volkslied-Verliebtheit zeigt, wird hier als ganz großer Melodiker gefeiert. Seine Gesänge strömen mit leuchtender Innigkeit und mit einem faszinierenden Veredelungsprozess aus den Kehlen und Seelen. Natürlich ist diese CD auch für die Erschließung von Sommers Schaffen ein wesentlicher Beitrag.
Roland Dippel