Behschnitt, Rüdiger
Orchestermusiker? LOL!
Im Internet entführt uns Gretchen in die wunderbare Welt des Orchestergrabens
Tagebuch zu schreiben ist out! Oder doch nicht? Wer jetzt an die handgeschriebenen Ergüsse pubertierender Backfische denkt, die ihr rosafarbenes Büchlein unter der Matratze verstecken, hat wichtige Veränderungen unserer Mediengesellschaft verschlafen. Die Öffentlichmachung des Privaten macht sich nicht nur in Form von Handy-Beschallung in der S-Bahn bemerkbar, sondern hat auch das Internet längst erfasst: Der Blog Abkürzung für Weblog, eine Wortkreuzung aus World Wide Web und Logbuch ist ein im Internet geführtes und damit öffentlich einsehbares Tagebuch, in dem die jeweiligen Tagebuchschreiber ihre sehr subjektive Sicht auf ihre Umwelt kundtun. Die Blogosphäre, wie sich die Gesamtheit der Blogger nennt, bietet damit aber auch eine Form von unzensierter Öffentlichkeit, die von Meinungsmachern und Medien durchaus ernst genommen wird und etwa in diktatorischen Gesellschaften eine wichtige Gegenöffentlichkeit bildet.
Von einer Diktatur ganz eigener Art, nämlich aus dem Innenleben eines Orchesters, berichtet eine Musikerin, die sich das Pseudonym Gretchenfrage gegeben hat. Unter http://orchestermusiker.blog.de/ schreibt Gretchen über das Leben mit der brotlosen Kunst, nervige Nebenjobs und erlaubt uns Blicke in den Orchestergraben und hinter die Kulissen. Und das nicht ohne Erfolg: Als Gretchen im Februar 2007 mit ihrem Blog begann, erreichte sie schnell Zugriffszahlen von 200 pro Tag. Inzwischen erfreut sich ihr Webtagebuch steigender Beliebtheit und kann bis Mitte Dezember 2007 die stolze Zahl von über 60000 Zugriffen vorweisen.
Was Gretchen zu berichten weiß, ist aber auch zu komisch: vom Hornmundstück, das in den Spalt des Podiums fällt, über den Kollegen, der hinterrücks von der Bühne kippt, bis zum Schlagzeuger, der während der Vorstellung den Orchestergraben nicht verlassen kann und daher mal eben hinter die große Trommel pinkelt… Doch natürlich schreibt Gretchen sich auch ihren Frust von der Seele: Viele Leute stellen sich unseren Beruf immer rosarot vor: Wir dürfen schöne Musik machen und bekommen das auch noch bezahlt. Dass man von dem Gehalt kaum große Sprünge machen kann und für einen gewissen Lebensstandard nebenher unterrichten oder muggen muss, ahnen die wenigsten Leute. Und was man bei diesen Nebenjobs so alles erlebt, gehört für mich auch in den Blog. Die Kollegen seien im Übrigen ahnungslos, was ihre Aktivitäten im Netz anginge, so Gretchen: Ich habe zwei Kollegen gegenüber erwähnt, dass ich gelegentlich blogge, aber damit wussten beide nichts anzufangen.
Und auch wenn so mancher Kollege, Dirigent oder Komponist sein Fett abbekommt: Mit ihrer unbekümmerten und mutigen Berichterstattung scheint Gretchen schon so manchen Leser für die Klassik begeistert zu haben: Den Blog habe ich ursprünglich eher für mich selbst geschrieben, als eine Art Tagebuch, nur eben öffentlich und habe nach kurzer Zeit festgestellt, dass die Seite in erster Linie von absoluten Klassik-Laien gelesen wird, für die dieser Blog die einzige Erfahrung mit klassischer Musik ist. Von einigen Lesern habe ich schon Post bekommen, dass sie mit Interesse in ein Konzert oder eine Oper gegangen sind, obwohl sie dies niemals zuvor getan haben. Es hat sie interessiert, ob sie die vielen kuriosen Dinge, die während einer Aufführung passieren, mitbekommen und sie waren letztlich unheimlich beeindruckt von der ganzen Sache. Ich glaube, einige von ihnen gehen sogar schon regelmäßig.
Lars aus dem Ruhrgebiet bestätigt Gretchens Aussage: Du hast mich als Klassik-Verachter übrigens zu einem richtigen Fan gemacht und ich habe mittlerweile schon 3x Sinfoniekonzerte und eine Opernaufführung von Falstaff besucht. Eigentlich wollte ich nur sehen, ob was Lustiges im Orchester passiert, aber dann hat mir plötzlich die Musik so gut gefallen, und so ein Abend hat doch echt Stil!, schreibt er in einem Kommentar.
Das interaktive Medium trägt nicht zuletzt zur Attraktivität des Web-Tagebuchs bei. Die Leser können die Einträge des Schreibers kommentieren und ihre eigene Sicht der Dinge hinzufügen. Nicht selten ist die Aussagekraft der Kommentare jedoch eher gering und beschränkt sich auf Abkürzungen, die in der Generation SMS das geschriebene Wort ersetzen: So steht etwa LOL für Laughing Out Loud (= lautes Lachen) ein Netzjargon, der erst verstanden sein will. Seine Überlegenheit in puncto Schnelligkeit gegenüber einem Printmedium beweist das Internet übrigens auf seine eigene Art: Noch während dieser Beitrag entsteht, hat Gretchen schon ihren Kommentar zur Veröffentlichung ins Netz gestellt!
Und wie gehts weiter mit dem Orchestermusiker.blog? Im Gespräch hat Gretchen angedeutet, dass sie aus privaten Gründen den Blog womöglich beenden wird, um sich anderen Themen zuzuwenden. Doch wer wird dann zukünftig live aus dem Graben berichten? Wird Gretchen ihre tausendköpfige Fan-Gemeinde im Stich lassen? Nun sag: Wie hast dus mit dem Blog? Das ist hier die Gretchenfrage!