Gerald Mertens (Hg.)

Orchesterland Deutschand

Wie die deutsche Einheit die Orchesterlandschaft verändert hat

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott
erschienen in: das Orchester 06/2021 , Seite 60

Der Band birgt eine Sammlung von Aufsätzen, die viele Perspektiven auf den Wandel der Orchesterlandschaft – vorwiegend im Osten Deutschlands – bieten. Der Herausgeber Gerald Mertens, seit 2001 Chef der Deutschen Orchestervereinigung, selbst Zeitzeuge und bei der DOV Akteur des Wandels, grenzt in seinem Vorwort den Gegenstand der Untersuchung ein: Es geht um die öffentlich getragenen Berufsorchester, nicht um die Orchester, die der „freien Szene“ zuzurechnen sind.
Man hat es immer geahnt, und liest es hier schwarz auf weiß, u.a. in den Aufsätzen von Arnold Jacobshagen und im tabellarischen Anhang: Der Osten war mehr als der Westen von Orchesterauflösungen und Stellenstreichungen betroffen, die Theaterorchester im Schnitt weniger als die Konzertorchester. Gleichwohl zeigen Vergleichszahlen, dass die Orchesterdichte in manchen der (nicht mehr) neuen Bundesländer gemessen an der Einwohnerzahl immer noch höher ist als im alten Westen.
Oft wird in den Aufsätzen der Artikel 35 des Einigungsvertrags (Kultur) zitiert, in dem festgelegt wurde, dass die kulturelle Substanz keinen Schaden nehmen dürfe. Die Realität vor Ort sah jedoch anders aus. Interessant sind in den Aufsätzen nicht nur die persönlichen Erinnerungen derer, die die Wende selbst erlebt haben, und wie sich sofort Ost-West Freundschaften knüpften. Alle Zeitzeugen sprechen emotional von dem Gefühl der im November 1989 gewonnenen Freiheit und schildern drastisch (Christoph Dittrich) das DDR-Orchester-System.
Zu Wort kommen auch die nach der Wende Verantwortlichen aus den Ministerien, die den Wandel unter der zusätzlichen Schwierigkeit von dysfunktional gewordenen Trägerstrukturen gestalten mussten. Diese Veränderungen betrafen nicht nur den Aufbau einer Selbstverwaltung in den Kommunen und den Landesregierungen der neuen Bundesländer. Auch eine personelle Neuorientierung war unumgänglich, weil viele der handelnden Figuren des Orchestermanagements DDR-Kadervergangenheit hatten. Dazu kam: Die zentralistische Organisation in der DDR hatte für das Publikum gesorgt. Plötzlich fand man sich in Freiheit, aber auch auf dem freien „Markt“ wieder.
Für die, die die Orchesterlandschaft der DDR nicht aus eigener Anschauung kennengelernt haben, sei das Buch erst recht empfohlen. In vielen der Aufsätze findet man Fakten über das System, über die von oben verwaltete Zuteilung von Musikern zu den jeweiligen Orchestern, über die Nachwuchssorgen und die Rekrutierung von Kollegen aus dem damaligen „Ostblock“. Man liest, dass es kaum gute Instrumente gab, weil die Spitzenprodukte aus den Werkstätten der DDR zur Devisenbeschaffung in den Westen verkauft wurden.
In den jüngeren Jahren wurde es kulturpolitisch etwas ruhiger, und so kann man sich einem Ausblick, weniger dem Überlebenskampf widmen (u.a. Andreas Schulz, Gewandhausorchester). Orchesterland Deutschland ist ein lesenswertes kleines Kompendium.
Gernot Wojnarowicz