Herles, Wolfgang

Opernverführer

Zehn Geschichten von Liebe, Wahnsinn und Tod

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Henschel, Leipzig 2012
erschienen in: das Orchester 09/2012 , Seite 68

Opernführer gibt es wie Sand am Meer, vom alten Reclam bis hin zur Enzyklopädie des Musiktheaters oder auch einer spaßigen Marginalie à la Loriot. Anhand neuer Werke bzw. Uraufführungen ließe sich das Buchgenre im Grunde uferlos fortsetzen. Wolfgang Herles wäre vielleicht geneigt zu fragen: Wie lange noch? Die Oper nämlich steckt in einer Krise, kein Zweifel. Da werden aufgrund von Sparzwängen große Häuser wie etwa Köln und Düsseldorf/Duisburg in ihrer Existenz massiv bedroht, aber auch mittlere (Bonn, Wuppertal) und kleinere (Hagen). Rettungsmöglichkeiten dürften sich lokal wohl unterschiedlich auftun. Herles, Kulturvermittler u.a. beim Fernsehen, legt freilich auch den Finger auf eine Wunde, die schon sehr viel länger schmerzt. „Wie kann die Oper lebendig bleiben? Wo sind der Thomas Bernhard, der Botho Strauß der Oper?“ Diese Fragen stehen am Ende einer Betrachtung über Arnold Schönbergs Moses und Aron. Diese Reflexion setzt sich fort bei Mark-Anthony Turnages Anna Nicole, dem jüngsten der in dem Buch Opernverführer behandelten Werke (Uraufführung London 2011).
Nur drei Prozent der Jugendlichen zwischen 14 und 24 Jahren interessiert sich laut einer Umfrage von 2006 überhaupt für das Genre, fünf Prozent besuchen ein Opernhaus immerhin einmal pro Jahr. „Wenn das Publikum verloren geht, gibt es keine Rechtfertigung mehr dafür, das dichte Netz städtischer und staatlicher Opern mithilfe von Steuergeldern am Leben zu erhalten.“ Ein Damoklesschwert! Noch gibt es eine ältere Generation, die sich daran erinnert, wie nach dem Zweiten Weltkrieg der Hunger auf Kultur fast größer war als der auf die nächste bescheidene Mahlzeit. Tempi passati. An einer angemessenen Pflege und Entwicklung von latent vorhandenen Interessen fehlt es heute an allen Ecken und Enden (Familie, Schule), die Medien fördern ein lediglich lethargisches Genießen. „Wer Fußball spielt oder ins Fitnessstudio geht, weiß sehr wohl, dass Vergnügen Schweiß kostet. Nur bei der Kultur soll das nicht mehr gelten.“
Fragen über Fragen, die sich kaum von heute auf morgen beantworten lassen. Andererseits sind gute Ansätze zu konstatieren: Kinderopern, Education-Programme etc. Wolfgang Herles versucht mit seinen mit viel Insider-Wissen angereicherten Betrachtungen von zehn beispielhaften Opern (u.a. Monteverdis Poppea, Mozarts Giovanni) Interesse (neu) zu wecken. Das Buch dürfte zunächst nur einschlägig Interessierte erreichen, aber die umgangssprachlich lockere Ausdrucksweise des Autors vermeidet Barrieren für erwünschte Neu-Einsteiger. Herles beschwört nachdrücklich die große Macht der Musik, die im Verein mit einem immer wieder neu zu erhoffenden inszenatorischen „Geniestreich“ wie Willy Deckers Salzburger Traviata (2005) in der Lage ist, emotionale Dimensionen zu eröffnen, wie sie nur der viele Künste vernetzenden Oper erreichbar sind. „Gewaltig empfinden zu dürfen, ohne danach handeln zu müssen, darin besteht die Wirkung der Oper.“
Christoph Zimmermann