Matthias Kauffmann
Operette im Dritten Reich
Musikalisches Unterhaltungstheater zwischen 1933 und 1945
Eduard Künnekes Hybrid-Singspiel Die große Sünderin, um dessen erste Produktion nach über achtzig Jahren sich die Musikalische Komödie Leipzig im Oktober 2017 bemühte, wurde von den Medien als Nazioperette rezipiert, auch weil das Stück als Auftragswerk an der Berliner Staatsoper Unter den Linden 1935 zur Uraufführung kam. Dieses Beispiel zeigt, wie nötig diese Dissertation von Matthias Kauffmann ist. Sie untersucht die Kunstform Operette von 1933 bis 1945 nach der Bestimmung von Werkgruppen in ihren theoretischen, theaterpraktischen, ästhetischen Bedingtheiten und als potenzielles Instrument der nationalsozialistischen Propaganda. Umfangreiche Recherchen sind den von Propagandaminister Joseph Goebbels besonders beobachteten Berliner Bühnen, dem Admiralspalast und dem Metropoltheater, sowie dem Münchner Gärtnerplatz-Theater unter dem temporär in Ungnade gefallenen Fritz Fischer gewidmet.Kauffmann hat eine beeindruckende Quellensammlung zusammengetragen, u.a. Dokumente aus Berliner Archiven sowie Texte des Literatur- und Theaterkritikers Karl Heinz Ruppel (1900–1980), des späteren Chefkritikers der Süddeutschen Zeitung, und er stellt dar, dass die ästhetische Grenze zwischen den in der Weimarer Republik ausgeprägten Formen Revueoperette, Singspiel und Ausstattungsrevue zum Nationalsozialismus keineswegs scharf gezogen werden kann. Die Aneignung der leichten Muse war keineswegs von einer klaren Linie bestimmt, auch nicht, nachdem nationalsozialistische Kontrollorgane jüdische Autoren, Komponisten und Darsteller aus ihren Positionen radikal entfernt hatten. Operetten mit einer akzentuiert völkischen Haltung wie Ännchen von Tharau von Heinrich Strecker oder Die Dorothee von Arno Vetterling gelangten nie auf die Berliner Bühnen. Die Inszenierung der Lustigen Witwe 1940 am verstaatlichten Theater am Gärtnerplatz, die am Berliner Metropoltheater imitiert wurde, orientierte sich an amerikanischen Vorbildern. Goebbels lehnte, wie Matthias Kauffmann darstellt, die eindeutige Lancierung von Verdrängungswerken ab, also Neuschöpfungen, die an die Muster beliebter, aber missliebiger Werke anknüpften. Für Erfolge, die wie Schwarzwaldmädel und Die Försterchristl aufgrund der jüdischen Herkunft ihrer Autoren nicht mehr gespielt wurden, konnten Ersatzprojekte die Popularität der verbotenen Stücke nicht erreichen.Die Untersuchung der Regiebücher zum Beispiel von Rudolf Kattniggs Großer Operette Kaiserin Katharina und Walter Kollos Singspiel Derflinger bestätigen, dass es für die Gestaltung ideologisch einwandfreier Werke nur wenige eindeutige Strategien gab. Ein Verzeichnis der Uraufführungen von 1933 bis 1945, der Hentschkiaden des Berliner Theatermoguls Heinz Hentschke, dessen Maske in Blau (Metropoltheater 1937) noch heute sprichwörtlich ist, und von Fritz Fischers Inszenierungen am Gärtnerplatz-Theater runden diese Publikation ab, die perspektiven- und dokumentenreich aufzeigt, dass es die nationalsozialistische Operette ebenso wenig gab wie ein klares offizielles Leitbild für deren Entwicklung.
Roland H. Dippel