Karl-Heinz Reuband (Hg.)
Oper, Publikum und Gesellschaft
Die Opernhäuser des 19. Jahrhunderts und die Neubauten der Nachkriegszeit prägen nicht nur die Stadtansichten. Sie sind steingewordenes Repräsentationsbedürfnis des Bürgertums von früher. Als Kunstform ist die Oper und damit ihr Publikum seit Längerem im Fadenkreuz der akademischen Soziologie.
Da gibt es eine Fülle von interessanten Fragestellungen: Wer geht in die Oper? Wie sind der Bildungsstandard und der Altersdurchschnitt? Kommen die Besucher aus der Stadt, dem Umland oder von weiter her? Welchen Einfluss haben Feuilleton und Rezensionen auf den Kartenverkauf? Dient der Opernbesuch, wie immer behauptet wird, der sozialen Distinktion? Wie spiegelt die Oper politische und gesellschaftliche Umbrüche? Stimmt die These von der Umwegrentabilität, dass Hochkultur zur wirtschaftlichen Entwicklung einer Stadt oder Region beiträgt? Und dann die Fragen nach den Hörern: Wer hört was und wovon wie viel und was schließt sich dabei aus oder ergänzt sich? Wie eignen sich populäre Projekte, um neues Publikum für die Kulturtempel zu generieren?
Es sind zwölf Studien zu solchen Fragen, die der Düsseldorfer Soziologe Karl-Heinz Reuband in einem lesenswerten Buch vereint hat. Ein Teil der Aufsätze ist dem historischen sozial- oder politikwissenschaftlichen Ansatz verpflichtet. In aller Kürze lassen sich die Ergebnisse so zusammenfassen: Auch früher wurden Kulturbauten viel teurer und später eröffnet als geplant, wie am Wiederaufbau der Wiener Staatsoper gezeigt wird. Außerdem diente der Wiederaufbau der nationalen Selbstvergewisserung. Dass es in London zu Beginn des 19. Jahrhunderts regelrechte Saalschlachten gab, weiß man auch nicht mehr angesichts des heutigen (gezähmten) Publikums. Offenbar kam es vor allem bei den Proms immer wieder zu Prügeleien.
Dort, wo sich die Autoren statistischer Methoden und Umfragen bedienen, fördern sie interessante und sehr ausdifferenzierte Erkenntnisse zu Tage. Vielleicht sind die Ergebniss mancher dieser Mikro-Studien nicht zu verallgemeinern, aber in ihrer Tendenz dennoch erhellend genug: Das Opernpublikum ist stärker gealtert als die Gesellschaft insgesamt. Solchen Orten, wo im späten Barock Opernhäuser gebaut wurden, geht es heute in der Regel wirtschaftlich besser. Liveübertagungen von Opernevents auf öffentliche Plätze generieren kein neues Publikum für den normalen Opernbesuch. Musikgeschmack, Interesse an Hochkultur und Interesse für andere Musikstile lassen sich nicht so einfach Milieus zuordnen.
Vor allem die Aufsätze, die sich der statistischen Methoden bedienen, zitieren immer wieder die These von Pierre Bourdieu von 1982 (Die feinen Unterschiede): Nichts würde die soziale Position eindrucksvoller dokumentieren als der Musikgeschmack. Das Ergebnis: Die These stimmt in dieser Form nicht.
Der vorliegende Band will kein Ratgeber für das Kundenmanagement der Opernhäuser sein. Es ist ein anspruchsvolles, differenziertes Buch, das diejenigen mit Gewinn lesen werden, die mehr über die Oper in der Gesellschaft wissen möchten.
Gernot Wojnarowicz