Merle Fahrholz/Heribert Germeshausen/Ulrike Hartung/Anno Mungen (Hg.)
Oper 2020
Eine Dokumentation aus der Oper Dortmund
Im Mai 2021 war man noch immer nicht weiter. Ein Jahr zuvor gab es nach dem ersten Lockdown in kleinen Schritten ein Frühlingserwachen des Theater- und Konzertlebens, meistens in kleineren Formaten und an ungewöhnlichen Orten. Im Herbst 2020 ging man an die Endredaktion dieser Dokumentation mit Interviews, Aufsätzen und Befragungen von Menschen, die am Haus, im Opernstudio NRW, als Gäste und Beobachtende mit der Oper Dortmund vertraut sind.
Der Prozess des Nachdenkens hat sich seither verschärft und verdichtet. Aufschlussreich ist die „Chronik einer Krise“ mit allen wegen der Pandemie erforderlichen Umordnungen vom 2. März 2020, als erste Schutzempfehlungen des Robert-Koch-Instituts das Theater Dortmund erreichten, bis zum Ende der Sommerpause am 3. August 2020.
Knapp vor dem ersten Lockdown konnte vor 25 Journalisten, aber ohne Publikum, noch eine „Generalprobe 2“ der Neuproduktion von Daniel-François-Esprit Aubers Die Stumme von Portici stattfinden. Durch die Präsenz der Kritik und deren publizierte Resultate erfuhr das Ensemble eine Würdigung seiner Arbeit und damit einen symbolischen Abschluss derselben.
Die Niederschriften zeigen, dass Corona für Musiktheaterschaffende ähnliche Unwägbarkeiten, Sorgen, Nöte, Ängste und Krisendiskussionen hervorrief wie für andere Berufsgruppen. Es geht um das Nachdenken über kurzfristigere Planungszeiten und damit ein agileres Reagieren auf Zeitimpulse. Gleichzeitig wird klar, dass die unterbrochene Produktions- und Reproduktionsfolge des komplexen Spiel- und Probenbetriebs mit seiner hohen Spezialisierung auch die hohe Qualität und breite Stilvielfalt des Musiktheaters beeinflusst.
Mit Nikolaus Habjan und Martin G. Berger kommen zwei Regisseure der jungen Generation zu Wort, welche – Habjan mit Puppen, Berger mit in jeder Inszenierung veränderten medialen Gegebenheiten – eine andere Flexibilität fordern als personelle Massenaufmärsche. Einig sind sich alle darin, dass die erzwungene Distanz und Arbeitsunterbrechungen eine größere empathische und emotionale Nähe bewirkten.
Zum Erscheinen dieser Ausgabe von das Orchester ist die Premieren- und Vorstellungssituation schon längst wieder eine andere als in Oper 2020. Weitere Projekttransfers werden folgen. The Sound of Dortmund kam inzwischen als Film heraus. Die Premiere von Camille Saint-Saëns’ Frédégonde wurde erst von Januar auf Mai und dann von Mai auf Herbst 2021 verschoben. Tanzproduktionen wandern von der Bühne als Video in den Stream, „kleine“ Produktionen sind fertig auch zur Verwendung vor Publikum. Die hier dargestellten Befindlichkeiten werden altern wie andere Corona-Phänomene, aber sie beweisen die Erneuerungskraft des Musiktheaters. Dieses ist bei weitem nicht so starr, wie viele glauben.
Roland Dippel