Michael Pitz-Grewenig

Oldenburg: Den Klimawandel in den Konzertsaal bringen

Das 2. Sinfoniekonzert des Oldenburgischen Staatsorchesters unter dem Motto „Musik und (gefährdete) Natur“

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 02/2023 , Seite 54

Kunstwerke sind Zeitsignaturen. Das beweist der Sachverhalt, dass sie nach Entstehungszeit und -ort zu klassifizieren sind. Manchmal gibt es aber auch „überzeitliche“ bzw. außermusikalische Kategorien, nach denen man verschiedene Kompositionen aufeinander beziehen kann. „Natur“, „Klima“ und „Umweltschutz“ sind derzeit hochaktuelle Begriffe, die vor dem Hintergrund eines Kausaldenkens die Fülle ähnlicher Erscheinungen und deren Einflüsse auf die jeweilige Komposition zu einer Perlenkette aufreihen. Ein solches Prinzip kann eine Sache überschaubar machen, hat aber deswegen noch keinen Erkenntniswert. Gleichwohl kann es jedoch zum Verständnis anregen. Das galt in hervorragender Weise für das 2. Sinfoniekonzert des Oldenburgischen Staatsorchesters, das unter dem Motto „Musik und (gefährdete) Natur“ stand.
Dass die Sinfonik des 19. Jahrhunderts nicht nur aus Beethoven, Schubert, Brahms, Bruckner oder Tschaikowsky besteht, hat sich inzwischen herumgesprochen und so sind immer öfter Werke von weniger bekannten Komponisten zu hören. Hierzu gehört mit Sicherheit der 1840 geborene Ernst Rudorff. Seine Gedanken zum Umweltschutz sind hochaktuell. Er erkannte frühzeitig die Gefährdung der Natur durch den Menschen.
Die Ouvertüre Otto der Schütz op. 12 geht auf ein Opernprojekt nach einem Versepos von Gottfried Kinkel zurück. Resultat ist eine Konzer­t­ouvertüre, die 1866 uraufgeführt wurde. Inhaltlich ist das Ganze eine rührselige Mischung aus Vater-Sohn-Problematik und Liebe in Adelskreisen. Rudorff verknüpft schlichtes Tonmaterial mit kontinuierlichen, dynamischen Steigerungen, geheimnisvollen rhythmischen Einwürfen usw. Das könnte auf Dauer plakativ und gefühlsduselig wirken, wäre da nicht das Oldenburgische Staatsorchester gewesen, das unter Hendrik Vestmann dieser Mischung von seelenstarker Handwerklichkeit und Mitteilungsbedürfnis eine wohl­tuende rationale und entschlackende Interpretationshaltung entgegensetzte.
Klima- und Naturschutz aus dem Geist der Musik und der Romantik – das kann auch für die Sinfonie Nr. 7 (Sinfonia Antartica) von Ralph Vaughan Williams gelten, die rund 100 Jahre später komponiert wurde. Deren musikalische Faktur ist bei aller Monumentalität recht überschaubar. Aber auch hier ist es wie bei der Zubereitung einer guten Mahlzeit: Es kommt auf den Koch an. Hendrik Vestmann trieb dieses bombastische Werk, das instrumental so ziemlich alles verwendet, was es an Orchesterinstrumenten gibt, einschließlich Windmaschine, Orgel, Solo-Gesang und Chor, mit geradezu manischer Erregung zu äußerster Fieberglut und erwies sich als Williams’ Fürsprecher ersten Ranges.
Klima- und Naturschutz aus dem Geist der Musik und der Romantik – das gilt auch für Daniel Michael Kaisers neue multimediale Komposition White, Vanishing für Orchester und Zuspiel, die bei diesem Konzert uraufgeführt wurde. Kaiser will in seinem Werk keine anekdotische Ereignisschilderung liefern, sondern einen Eindruck von der menschenleeren, gleichzeitig bedrohlichen wie wunderschönen arktischen Landschaft vermitteln – und der Wirkung, die dieser Anblick auf den menschlichen Geist ausübt. „Mit White, Vanishing möchte ich den Klimawandel in den Konzertsaal bringen“, so der Komponist.
Hendrik Vestmann gelang es subtil, die Fragmentierung der polyfonen Strukturen als musikalische Geschlossenheit vorzustellen. Er vollzog eine orchestrale Kernspaltung von Daniel Michael Kaisers Klangskulptur aus orchestralen Klängen und Tonaufnahmen von Schritten im Schnee, schmelzendem Wasser, krachenden Eisschollen. Im minutiösen Nachforschen auch der kleinsten klanglichen Zusammenhänge offenbarte sich ein verschlüsselter Trauerkosmos einer vielleicht bald nicht mehr vorhandenen Umwelt, von der wir ein Teil sind, wobei in den atomisierten Klangpartikeln eine die Trauer überwindende Transzendenz hörbar wurde.
Im Umgang mit zeitgenössischer Musik gibt es mindestens zwei Arten von Schwierigkeiten, die man auseinanderhalten sollte. Einmal die technische, die aus einer zunehmenden Spezialisierung erwächst und damit immer höhere Anforderungen an das artistische Vermögen der Interpreten stellt. Eine profund andere Art von Schwierigkeit betrifft die Abkehr von geläufigen Formen der musikalischen Grammatik und ein nach gänzlich anderen Prämissen sich zusammenfügendes Klanggeschehen. Wiederholungen von Grundformeln, äußerst reduzierte harmonische Entwicklung, eine Musik voller Statik, meditativer und höchst filigraner Ton-Gebilde, die eine archaische Weite und Großzügigkeit beschwören. Das Schlagzeugtrio Rain Tree von Tôru Takemitsu bringt beide Aspekte zur Synthese. Hintergrund dieser Komposition aus dem Jahre 1981 ist die Struktur eines „Regenbaumes“, verbunden mit dem ewigen Kreislauf des Wassers. Andreas Heuwagen (Vibrafon), Philipp Arndt und Moritz Weller (Schlagzeug) gelang eine von suggestiver Kraft beherrschte, fast somnambule, hyperaktive Interpretation.