Claudia Irle-Utsch
Würzburg: Offene Türen in freie Räume
Das Mozartfest Würzburg folgt 2022 dem Motto „Alles in einem: Freigeist Mozart“ und fragt nach dem Neuen im Alten
Mozart war in der Stadt. Im übertragenen Sinne: mit seinem Geist, mit seiner Musik. Natürlich in den prachtvollen Sälen der Würzburger Residenz, natürlich auch im Kiliansdom oder in St. Stephan. Aber eben auch mittendrin. Manchmal unerwartet, in jedem Fall erfahrbar und gegenwärtig. Ein Musiker, der sich zu seiner Zeit einen Freiraum eroberte – innovativ, das Unerhörte wagend, das Noch-nie-Gehörte hören lassend. Und: ein Impulsgeber in unserer Zeit, die sich in einem Umbruch wähnt. Dem „Freigeist Mozart“ folgte das Mozartfest Würzburg in diesem Jahr programmatisch in besonderer Weise. In der ersten Saison nach dem 100. Festival-Geburtstag stellte das Team um Intendantin Evelyn Meining die Zeichen bewusst auf Anfang. „Es geht darum, Zugänge zur klassischen Musik neu zu sehen und anzubieten“, so Meining im Interview. Es gelte, die Gesellschaft, die gerade als „sehr verändert“ wahrzunehmen sei, in den Blick zu nehmen, sich zu öffnen, Brücken zu bauen. Und wie könne Letzteres besser erfolgen als über die universelle Sprache der Musik?!
Und so stellte das Mozartfest 2022 Wolfgang Amadé Mozart (1756-1791) nicht allein ins Schaufenster, sondern machte Fenster und Türen im konkreten wie im übertragenen Sinne weit auf. So konnten etwa im „M Pop Up / Raum für Mozart“ – einem außerhalb des Mozartfests leerstehenden Ladenlokal – Menschen „einfach so“ mitmusizieren; zugleich war hier ein Ort fürs Denken über den Tag hinaus: „Wie werden wir gelebt haben wollen?“, mutmaßten der Soziologe Harald Welzer und die Pianistin Hanni Liang, inklusive des Versuchs, Visionen musikalisch umzusetzen. Im Kultur- und Kreativzentrum Bürgerbräu gestaltete das Orchester im Treppenhaus ein dreitägiges „Freispiel“ – u. a. mit dem Format „Disco“, das Neue Musik tanzbar macht. Und es wurde getanzt!
Im Exerzitienhaus Himmelspforten befragten Stipendiatinnen und Stipendiaten die musikalische Gegenwart theoretisch und praktisch: Im „MozartLabor“ verdichtete sich das Erforschen des Alten im Neuen und des Neuen im Alten, nicht nur, aber auch unter der Ägide von Isabel Mundry, die mit gleich vier Uraufführungen beim Mozartfest vertreten war. Ihr Ansatz, nicht nur die eine, eigene Musikgeschichte zu reflektieren, sondern auch die anderer Kulturen, wirkte enorm prägend. Im Podcast „Des Pudels Kern“ kamen Geigerin Carolin Widmann und Streetworker Burak Caniperk ins Gespräch über Haltung. Das sei viel mehr als eine Momentaufnahme gewesen, so Evelyn Meining. „Die beiden wollen im Kontakt miteinander bleiben, einander unterstützen.“ Etliche der neu aufgenommenen Fäden sollen in den nächsten Jahren
weitergesponnen werden. Vieles könne sich nachhaltig entfalten, so die Intendantin. Was auch dem „audience development“ dienen soll, dem Auftun neuer Besucherkreise auf der Basis eines Stammpublikums. „Das alles ist das Mozartfest“, sagt Evelyn Meining. „Ausgangs- und Zielpunkt bleibt Mozart. Die Wege aber dahin werden wir neu beschreiten.“
Wie das gehen kann, zeigte sich auch mit dem Konzert des Philharmonischen Orchesters Würzburg unter der Leitung von Enrico Calesso. Denn hier fügte sich das Neue, nämlich Anno Schreiers Sinfonia amorosa e giocosa, zum längst Bekannten, konnten sich Mendelssohn Bartholdys Konzert für Violine und Orchester e-Moll op. 64 und Mozarts Sinfonie Nr. 36 C-Dur KV 425 „Linzer“ im Licht des zeitgenössischen Werks spiegeln, waren Bezüge offensichtlich; es konnte aber auch das Eine neben dem Anderen stehen.
Eigentlich hatte Schreiers Sinfonie schon im vorigen Jahr beim Mozartfest uraufgeführt werden sollen. In Auftrag gegeben „in einer anderen Welt“, wie der Komponist im Geprächt sagte, und konzipiert auch mit dem Ansinnen, durch Konzerte verschiedene Mozart-Städte miteinander zu verbinden; wie Brüssel, wo das Werk im Juni 2021 uraufgeführt werden konnte. In Würzburg war eine Aufführung damals pandemiebedingt nicht möglich. Aber jetzt – und mit enormem Erfolg. Begeistert war die Reaktion des Publikums auf die dreisätzige Sinfonie, in der Schreier das Ambivalente des Mozart’schen Schaffens zeigt: das Heitere, Spielerische, das Leidenschaftliche, aber auch das mitunter Abgründige. Diesen Kontrast von hell und dunkel lotet er durchweg aus; es geht ihm um eine Balance, die nur sekundenweise trägt, um sich gleich wieder zu verschieben und neu zu finden. Popmusik-artige Elemente, „tricky“ versetzte Rhythmen entfachen im dritten Satz einen Sog, dem so leicht sich zu entziehen kaum möglich ist.
Eine Viertelstunde lang ist das Stück, bei dem sich Schreier an Mozarts frühen Sinfonien orientiert hat. Darin sei bereits alles enthalten, was Mozarts Œuvre ausmache, sagt er. Besonders schön: wie sich die ganze Farbigkeit des Orchesters im ersten Satz zeigt und wie kristallin diese musikalische Erzählung zumal im zweiten Satz daherkommt. Seine Sinfonie stelle die Begleitfiguren in den Vordergrund, sie sei „wie eine Oper ohne Sänger“, so Schreier. Stimmig, setzt er doch gerade im Musiktheater-Fach starke Akzente. So steht am Staatstheater Nürnberg am 26. November die Premiere seiner neuen Oper Turing an. Darin geht es um die tragische Geschichte des Computer-Pioniers Alan Turing.