Groote, Inga Mai

Östliche Ouvertüren

Russische Musik in Paris 1870-1913

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2014
erschienen in: das Orchester 05/2015 , Seite 69

>m Anfang ist Erstaunen: Wie bringt es ein doch recht begrenztes Thema zu einem eng bedruckten Buch von über 400 Seiten? Die Erklärung findet sich am Ende des Bandes: Es handelt sich um eine Habilitationsschrift, die an der Universität Zürich eingereicht wurde – und bei einer solchen liegen, ähnlich wie bei Dissertationen, die Themen eben einfach nicht mehr so auf der Straße herum.
Was Inga Mai Groote da vorlegt, ist zunächst einmal eine bewundernswerte Fleißarbeit: kein Programmzettel, der von ihr nicht gewürdigt, keine zeitgenössische Kritik, die nicht sauber erfasst und umfangreich zitiert würde, kaum eine damalige Meinung, die von ihr unbeachtet geblieben wäre! Andererseits aber ist festzuhalten, dass die Autorin erstaunlich bemüht ist, ihr Werk vor allzu vielen Lesern zu schützen. Einmal durch das eben sehr eingeschränkte Thema, zweitens durch einen sich wissenschaftlich gebenden Jargon, der vielfach die Unverständlichkeit zum Programm erhebt (dabei lässt Inga Mai Groote an einigen Stellen eine durchaus bemerkenswerte Formulierungskunst aufblitzen, die die Frage zulassen muss, warum sie es nicht durchgängig damit versucht). Drittens setzt das Buch (bisweilen exzellente) Französischkenntnisse voraus, da die Autorin ihre Quellen ebenso konsequent wie ausschließlich französisch wiedergibt. Das mag für die viersprachige Schweiz zu rechtfertigen sein, ist aber im übrigen deutschen Sprachraum, der fremdsprachig eher auf Anglofonie setzt, doch etwas problematisch.
Das (zugegeben: sehr kurz) zusammengefasste Ergebnis ihrer Arbeit ist der Nachweis, dass die Konjunktur, die beinahe alles Russische – also Musik, Literatur, bildende Kunst und sogar sich russisch gebende Warendesigns (Parfüms, Seifen, Feinkost im russischen Gewand) – im Frankreich am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchlief, vorzugsweise politisch motiviert war. Frankreich war bemüht, nach dem verloren gegangenen Krieg von 1870/71 und im Angesicht des Dreibundes zwischen dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn und Italien durch eine enge Verbindung zu Russland gegenzuhalten. Das bedeutete auf dem Gebiet der Musik eine starke Repräsentanz russischer Komponisten in den Konzert-, Opern- und vor allem Ballettprogrammen (Stichwort Sergei Djagilew), die noch gestützt wurde durch zahlreiche Interpreten russischer Provenienz.
Das alles aber ist im Grunde wenig spektakulär: Politische Bündnisse zeitigen immer auch gewollte und entsprechend geförderte kulturelle Präferenzen. Warum sollte es angesichts der europäischen politischen Konstellationen der vorvorigen Jahrhundertwende anders gewesen sein?
Sub specie aeternitatis lässt sich wirklich alles anzweifeln und kritisieren, weshalb die Cui-bono-Frage immer auch etwas gemein ist. Im vorliegenden Fall kommen wir freilich nicht umhin, sie zu stellen, verlässt der Leser das Buch doch mit einem eher randständigen Erkenntnisgewinn.
Friedemann Kluge