Werke von Igor Stravinsky, Peter Eötvös, Alessio Elia und anderen

Octets

I Solisti della Scala, Ltg. Andrea Vitello

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Warner Classics
erschienen in: das Orchester 12/2018 , Seite 75

Es war ein „scandale de silence“. Das Pariser Publikum des Jahres 1923 hatte einen wilden ungestümen Russen erwartet – und fand einen nüchternen Klassizisten vor. Wie langweilig! Eisiges Schweigen nach der Uraufführung von Igor Strawinskys Bläseroktett.
In der Tat ist das Werk der klassizistischen Phase Strawinskys zuzuordnen und heute längst ein Klassiker – jedoch alles andere als eintönig. „Trocken, kühl, klar und spritzig wie Sekt“ solle sein Oktett klingen, sagte Strawinsky. Dazu hat er die klassische Oktettbesetzung mit jeweils zwei Oboen, Klarinetten, Hörnern und Fagotten teilweise verändert zu einer Flöte, einer Klarinette, zwei Fagotten, zwei Posaunen und zwei Trompeten. Weiche, warme Farben und Mitteltöne hört man zwar auch noch – viel häufiger jedoch einen satirisch geschärften, kernigen Spaltklang.
Strawinskys Oktett ist also auf der neuen CD der von Andrea Vitello geleiteten Bläsersolisten der Mailänder Scala enthalten – gespielt mit italienischer Leichtigkeit und Nonchalance. Das allein wäre aber nichts Besonderes, denn das Werk ist schon mehrfach eingespielt worden. Bei dieser Aufnahme ist Strawinsky, der für traditionell gesinnte Konzertbesucher schon den absoluten Endpunkt der musikalischen Entwicklung markiert, aber nur der Anfang, die Wurzel, der Nährboden für weitere kammermusikalische Werke zeitgenössischer Komponisten. Das allein ist schon bemerkenswert: vier neue Oktette in gleicher Besetzung wie bei Strawinsky.
Am bekanntesten ist gewiss Peter Eötvös (*1944), der früher einmal das Ensemble Intercontemporain geleitet hat und an der Musikhochschule in Karlsruhe unterrichtet. Sein Oktett treibt den von Strawinsky initiierten Dialog zwischen Misch- und Spaltklang, zwischen Kontemplation und Aufschrei, in kurzer, atemloser Folge voran. Gerne lässt Eötvös jeweils zwei Instrumente sich aneinander schmiegen, setzt einen Klanggrund, der von eruptiven Einwürfen zerrissen wird.
Auch bei den anderen Komponisten: echte Avantgarde, keine gefühlige Neoromantik oder eingängige Postmoderne. Der italienische Komponist Alessio Elia (*1979) zieht seine Hörer quasi ohne Vorwarnung vom ersten Ton seines Oktetts an in ein dichtes Geflecht von Melodiesträngen hinein, die sich unerbittlich um die Ohren winden. Ganz anders der zweite Satz – zuerst oszillierende Klangflächen, dann winden sich, wie Schlangen, Holzbläsergirlanden hinein.
Das Stück By heart von Albertas Navickas (*1986), einem litau­i­schen Komponisten, ist von den modernen Oktetten vielleicht das Spannendste, ein Atemstück im wahrsten Sinne des Wortes, mit gehauchten Tönen, geflüsterten Worten, angedeuteten Klängen, Klappengeräuschen – sehr mystisch, sehr faszinierend. Schließlich Gargoyles in love, also „Liebende Wasserspeier“, ein Fest der Klangexperimente von Rita Ueda (*1963), einer kanadischen Komponistin – fabelhaft dicht komponiert, herrlich grotesk. Schade nur, dass es das Booklet lediglich auf Englisch gibt.
Johannes Killyen