Widmann, Jörg

Oboenkonzert

Klavierauszug von Erich Hermann, mit Solostimme

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2016
erschienen in: das Orchester 10/2016 , Seite 64

Das Oboenkonzert Jörg Widmanns ist als Auftragswerk des Lucerne Festivals 2009 entstanden. Drei Sätze hatte Widmann zur Uraufführung fertig, zwei weitere folgten, sodass die komplette Fassung erst im Januar 2010 aufgeführt werden konnte.
Das fünfsätzige Konzert ist seinem Oboe spielenden Komponistenkollegen Heinz Holliger gewidmet. Es wird mit einer musikalischen Initiale, dem zweigestrichenen h der Solooboe, beziehungsreich eröffnet. Ausgehend von diesem für das ganze Konzert zentralen Ton wird der Tonraum zunächst in kleinen Tonschritten, dann auch mit größeren Intervallen melodisch zum Zwölftonraum erweitert. Es ist die Nähe zur Tonsprache des Komponisten Holliger, mit der Widmann den lyrisch-verhaltenen Anfang des Konzerts gestaltet, ehe er das Idiom der gravitätischen französischen Ouvertüre mit dem Stilelement der doppelten Punktierung aufgreift. Nach einem Rückgriff auf den Satzbeginn endet der erste Satz auf dem h”’ der Violinen, das anschließend mit einem Plektron angerissen, klanglich umgefärbt wird und auch den zweiten scherzoartigen Satz beginnt. Dieser dicht motivisch gearbeitete, sehr transparente Satz schließt ein schlichtes Trio ein, auf das der stark erweiterte A-Teil mit polyfonen Techniken folgt. Im nächsten Satz, Canto, der mit einem hohen Oktavtremolo auf dem Ton b einsetzt, erinnert Widmann an die im Jahr des Entstehens des Konzerts verstorbene amerikanische Förderin der zeitgenössischen Musik Betty Freeman. Es ist eine expressive Musik mit dunkler Glut, die unter allgegenwärtigen Sekundklängen mit einem Trauermarsch-Gestus, aber barocker Artikulation und unterblasenen Oboen-Tönen ausklingt. Im vierten Satz dominiert zunächst das Orchester mit leidenschaftlichem, dynamisch gesteigertem Ausdruck und kontrastreichem Wechselspiel unter verstärktem Einsatz des Schlagzeugs. Die Schärfung im Klanglichen setzt sich nach einer längeren Ruhephase des Solisten mit einem hässlichen Multifon als Einsatzton fort. Die geräuschhafte Tonerzeugung tritt vermehrt auf, melodisch herrschen extreme Sprünge vor. Eine ausgedehnte Solo-Kadenz führt unmittelbar zum kurzen, im Ausdruck beruhigten Schlusssatz, der nach weiteren Allusionen das gut 35-minütige Konzert auf dem Ton h beendet.
Der Oboenpart, der bei der Uraufführung von dem damals 70-­jährigen Heinz Holliger geblasen wurde, ist für den Solisten eine Tour de force. Ihm wird unabhängig von dem äußerst hohen technischen Anspruch auch eine extreme dynamische Spannweite abverlangt, die an manchen Stellen sicher nur annähernd erreicht werden kann.
Der Klavierauszug verzeichnet nicht nur sehr genau die Instrumentation des Orchesters, sondern geht auch auf die speziellen Spieltechniken und Klangwirkungen ein, sodass die Einstudierung des Konzerts wesentlich erleichtert wird.
Das Oboenkonzert Widmanns ist eine herausragende Komposition, die alle neuen Facetten des Klang- und Ausdrucksobjekts Oboe mit subjektivem Gehalt erfüllt und dabei auch Traditionelles durchscheinen lässt.
Heribert Haase