Ali-Sade, Frangis

Oasis

für Streichquartett und Tonband, Partitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Edition Sikorski, Hamburg 2008
erschienen in: das Orchester 11/2009 , Seite 68

Der Hörer wähnt sich in einem kühlen Raum, einer Höhle vielleicht: Wassertropfen plätschern vereinzelt, man glaubt, jeden einzelnen von ihnen vor Augen zu sehen. Fast unmerklich mischt sich eine Violine in dieses Klangbild hinein. Winzige Gestalten sind es, Wechseltöne, Repetitionen, chromatische Skalen, in hoher Lage und als Pizzicato gespielt. So können auch Töne tropfen. In quasi-kanonischer Manier setzen die übrigen drei Streicher ein und verdichten das Geschehen. Die Musik ähnelt jetzt einem Prisma, scheint zu oszillieren.
Mit diesem aus Geräusch und Tönen gemischten Klanggemälde beginnt die Komposition Oasis, geschrieben 1998 von der aserbeidschanischen Komponistin Frangis Ali-Sade. Raffiniert beginnt sie, das Bild zu ändern. Glissandi und sphärische, zart pfeifende Flageoletts schleichen sich ein, dann gewinnt die Musik melodische Kontur und steigert sich zu einem fast romantischen, espressiven Liniengeflecht, verbunden mit Anklängen an orientalische Intervallik.
Zwar hält sich die Komponistin von schlichter Illustration fern und versteht die Oase eher als Metapher für einen Ort der Stille und des Rückzugs („a quiet place of refuge“). Gleichwohl stand ihr offenbar ein recht konkretes Bild einer Oase irgendwo in der Wüste vor Augen: „Travelers dream about oases, exhausted from the intense heat in the endless desert.“ Und vielleicht sind es ja erschöpfte, ihren Halluzinationen ausgelieferte Reisende, die etwa in der Mitte des Quartetts als „ängstliches Gemurmel von Männern“, zugespielt von einer CD, in Erscheinung treten. Die Musik umtost die Gruppe an dieser Stelle als glühend-intensives Konglomerat aus Sextenfolgen, wütenden Repetitionen, heftigen Akzenten und bedrohlich wirkenden Linien. Dann beruhigt sich das Geschehen, mildert sich ab zu einem fein gewirkten Gespinst aus Melismen („molto espressivo“), dem eine ätherische, choralartige Musik folgt („Adagio tranquillo“). Am Ende ist der Hörer wieder mit sich allein – nur das Geräusch tropfenden Wassers bleibt zurück. Eine Fata morgana das Ganze? Vielleicht. Auf jeden Fall eine gelungene Verschmelzung von kaukasischer Musiktradition und westlichen Kompositionstechniken, ein Ansatz, den die 1947 in Baku geborene Künstlerin in vielen ihrer Werke verfolgt.
“Oasis” für Streichquartett und Tonband (genauer: Zuspiel-CD) entstand im Jahr 1998 für das Kronos-Quartett, das auch die Uraufführung ein Jahr später in Glasgow besorgte und ein weiteres Jahr später eine mustergültige Einspielung vorlegte. Das Werk ist Teil des Zyklus Silk Road. War das Aufführungsmaterial bisher nur als Kopien der offenbar sehr gut lesbaren Handschrift der Komponistin verfügbar, ist seit Kurzem eine Druckausgabe (Partitur und Stimmen) auf dem Markt, die der Sikorski-Verlag herausgebracht hat. Die für eine Aufführung erforderliche Zuspiel-CD ist kostenfrei über den Verlag zu beziehen.
Mathias Nofze