Ian Wilson und Ivan Moody

Nine(Birds)Here

NDR Chor, Raschèr Saxophone Quartet, Ltg. Philipp Ahmann

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Es-Dur
erschienen in: das Orchester 05/2021 , Seite 91

Zwei hochoriginellen Komponisten der Gegenwart aus Großbritannien bot der NDR Chor vor einigen Jahren ein erinnerungswürdiges Forum. Was die beiden Komponisten außer dem gemeinsamen Geburtsjahrgang 1964 verbindet, ist die Empfänglichkeit für lyrische und epische Wortkunst und die Vorliebe für menschliche Stimmen.

Ian Wilson stammt aus dem nordirischen Belfast, Ivan Moody ist geborener Londoner. Zwar entspringen ihre Inspirationen höchst unterschiedlichen Quellen. Wilson schätzt Morton Feldman, dessen Klangfarbensinn er rühmt, und Dmitri Schostakowitsch, der den Hörer unmittelbar berühre. Auch fesseln ihn bildende Künstler des 20. Jahrhunderts, zumal Paul Klee, Joan Miró, Edvard Munch, Mark Rothko und Jackson Pollock. Ivan Moody hingegen, seinem Lehrer John Tavener geistesnah, wurzelt im spirituellen Kraftzentrum des orthodoxen Kirchengesangs, woraus sich eine gewisse stilistische Nähe zu dem Esten Arvo Pärt erklärt. Wilson wie Moody entdeckten für sich den Beziehungszauber, der zwei vermeintlich unverträgliche Klangfamilien quasi genetisch bindet: den gemischten Chor und das Saxofonquartett.

Schon Hector Berlioz pries das damals erfundene Saxofon als der menschlichen Stimme nächstverwandtes und an Ausdruckskraft ebenbürtiges Blasinstrument. So ist es kaum verwunderlich, dass das hochrenommierte Raschèr Saxophone Quartet etliche Komponisten mit Werkaufträgen für eben diese Besetzung betraute, darunter den Italiener Luciano Berio und den Esten Erkki-Sven Tüür. Entsprechend angeregt, ließen sich auch Wilson und Moody verführen, dem Gattungszwitter zu huldigen. Dass sich Philipp Ahmann, von 2008 bis 2019 künstlerischer Leiter des NDR Chors, zur Halbzeit seiner fruchtbaren, dem A-cappella-Gesang zugeneigten Hamburger Jahre auf eine Liaison mit den weltreisenden Saxofonvirtuosen einließ, könnte einer Anregung seines Lehrers Marcus Creed entsprungen sein.

Die von Ahmann kenntnisreich erläuterte Edition, deren Aufnahmen 2014 und 2015 im Rolf Liebermann-Studio des NDR entstanden, koppelt kürzere Chorstücke beider Komponisten (Wilson vertonte lyrische Stenogramme von E. E. Cummings, Moody liturgische Dichtungen der Ostkirche) mit jeweils einer ausgedehnten Komposition für Chor und Saxofonquartett. Ian Wilson wählte hierzu ein scheinkindliches, schier lustmordendes Poem des Malers Oskar Kokoschka: „rot fischlein/fischlein rot/stech dich mit dem dreischneidigen messer tot.“ Während die vielgeteilten Chorstimmen manisch in sich zu kreisen scheinen, mischen die Saxofone dumpfe Klappengeräusche und brüchig überblasene Töne ein.

Gleicht Wilsons Little red fish (2006) einem Albtraum, so zitiert Ivan Moody in Moons and Suns (2008) eine ungeheuerliche Rune aus dem finnischen Nationalepos Kalevala, worin sich der Schmied Ilmarinen anmaßt, der Erde Sonne und Mond zu ersetzen. Der Chor schildert die Schändung der Schöpfung, das Saxofonquartett kommentiert die Hybris des Menschen und gliedert den Erzählstrom in Eis-, Wasser- und Sonnenlandschaft. Die ökologische Mahnbotschaft ist unüberhörbar.

Lutz Lesle